Geht das denn schon wieder los?
verlängert – vorwärts bis zum Stoppschild an der nächsten Ecke, weil Tom nicht wusste, ob es nun rechts- oder linksherum weiterging. Also erst allgemeiner Halt, Wechsel des Spitzenreiters, sodann mit zunehmender Geschwindigkeit Richtung Westen, denn Jörg war sich absolut sicher, dass der
Schwarze Schimmel
ganz in der Nähe vom Fernheizwerk zu finden sei. Da ich nicht mal wusste, dass es bei uns ein Fernheizwerk gibt, geschweige denn, wo es steht, musste ich mich auf unseren selbst ernannten Cicerone verlassen. Im Gegensatz zu sonstigen gemeinsamen Ausfahrten saß ich diesmal selbst am Steuer, weil Rolf es vorgezogen hatte, im viel größeren, bequemeren, sitzbeheizten und klimaanlagentemperierten Auto von Hannes mitzufahren statt in meiner japanischen »Reisschüssel«, die aber wenigstens den Vorzug hat, in der deutschen Pannenstatistik auf dem vorletzten Platz zu stehen. Und Sven lasse ich nur ungern ran, weil sein Fahrstil dem von Heinz-Harald Frentzen ähnelt.
Man erspare mir eine genauere Schilderung meiner Irrfahrt, denn an irgendeiner Abzweigung musste ich wohl vorbeigefahren sein; es schneite immer noch heftig, und als ich meinen kurzfristig aus den Augen verlorenen Vordermann wieder eingeholt hatte, war aus dem BMW plötzlich ein Beatle geworden, obwohl nicht anzunehmen war, dass Hannes’ Auto trotz permanenter Nässe inzwischen geschrumpft sein sollte. So was passiert nur mit neuen Pullovern, die versehentlich in den Wäschetrockner geraten sind.
Bei derartig unfreundlichem Wetter findet man natürlich keinen Fußgänger, den man fragen könnte, schon gar nicht um die Mittagszeit, also die nächste Tankstelle angefahren, doch dort kannte man keinen
Schwarzen Schimmel,
nur einen
Wilden Eber.
Erst nach dem vierten Hinweis kam uns der Verdacht, dass aufgrund von Metamorphose das Schwein wohl inzwischen zum Pferd mutiert sein musste. Immerhin erreichten wir unser Ziel noch früh genug, bevor sich der schon im Aufbruch begriffene Suchtrupp auf den Weg gemacht hatte.
»Wozu hast du eigentlich ein Handy?«, begrüßte mich Steffi, die im Gegensatz zu mir nie ohne diesen transportablen Kontrollapparat das Haus verlässt.
»Hab ich denn jemals eins haben wollen?«, blaffte ich zurück, obwohl sie ja Recht hatte. Ich hasse diese Dinger zwar, weil sie langjährig bewährte Ausreden ad absurdum führen (»Natürlich hätte ich dich angerufen, aber es gab ja weit und breit kein Telefon!«), doch in gewissen Situationen sind sie natürlich nützlich.
Wenigstens beruhigten sich die Gemüter relativ schnell, was wohl auch daran lag, dass alle Hunger und jetzt auch die Hoffnung hatten, er werde in Kürze gestillt werden. Und genau das war ein Irrtum.
Der
Schwarze Schimmel
hatte tatsächlich mal
Wilder Eber
geheißen und war ein ländlich-rustikales Wirtshaus gewesen, bevor es einen neuen Besitzer bekommen hatte. Der konnte wohl nicht so mit Schweinen, Rösser sind eben edlere Tiere, aber
Gasthaus zum Pferd
klingt nun auch nicht gerade nach gehobener Küche, doch genau diese sollte dem Haus nun die nötige Reputation bringen. Wohl zum besseren Verständnis wurde auf dem Vorsatzblatt der in Leder gebundenen Speisekarte erläutert, wie es denn zu der Bezeichnung
Schwarzer Schimmel
gekommen war. Demnach hatte im achtzehnten Jahrhundert der Erbauer dieser damals noch
Schenke
genannten Lokalität von einem Händler ein Pferd gekauft, einen Schimmel, und zugesichert, ihn nach der Ernte zu bezahlen. Anscheinend war das seinerzeit üblich gewesen (ich gehe mal davon aus, dass der Begriff »Dispo-Kredit« damals noch unbekannt war), nur hatte der Wirt trotz wiederholter Mahnungen auch zu Mariä Lichtmess seine Schuld noch nicht beglichen. Vielmehr behauptete er, das Tier sei ihm gestohlen worden, vermutlich sogar von seinem früheren Besitzer, jedenfalls habe er ein neues Pferd kaufen müssen, einen Rappen diesmal, und der stehe hinten im Stall. Nun soll es zu diesem Zeitpunkt jedoch heftig geregnet haben, und so richtig wetterfest war das Dach des Stalls wohl auch nicht, jedenfalls muss das Pferd inzwischen mehr einem Apfelschimmel geähnelt haben als einem schwarzen Rappen, was wohl in erster Linie daran lag, dass es vor zweihundert Jahren noch keine wasserfeste Farbe gab. Der betrügerische Wirt wurde in den Schuldturm gesteckt, aber es ist nicht überliefert, ob und falls ja, wann er ihn wieder verlassen durfte. Und so richtig weiß soll das Pferd ja auch nicht mehr geworden sein.
Ob die Geschichte nun wahr ist
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