Gehwegschäden
Fundgruben in der Stadt zurechtgelegt. Türkische Metzger, arabische Händler und asiatische Geschäfte in den ärmeren Gegenden, ausgesuchte Secondhand-Läden und Flohmärkte in den gutbürgerlichen Vierteln. Eine Folge von zu viel Zeit und zu wenig Geld. Er durchstreifte die Stadt auf seinem klapprigen Rad wie ein Jäger und Sammler. Wann immer es ihn nach Kreuzberg verschlug, nutzte er die Gelegenheit, sich am türkischen Markt mit Obst, Gemüse und Oliven einzudecken. War er weit im Osten, machte er einen Abstecher in die Fidji-Hallen, die abfällig so genannt wurden, weil dort asiatische Großhändler auf einem alten Fabrikareal die Nippesläden und Asia-Restaurants der Stadt belieferten. Er füllte seine Satteltaschen mit Lemongras, Chinakohl, Ingwer und frischem Koriander und aß in einer der Garküchen.
Frantz hatte sich für einen Pazifikfisch entschieden. Einen roten Zackenbarsch, ein vollständiges Tier von mehr als einem Kilo Gewicht. Er hatte ihn vor Marie-France’ Augen in der Küche geschuppt, bearbeitet, gewürzt und eingelegt, mit Tomaten, Petersilie und Zitronenscheiben garniert und in den Ofen geschoben. Marie-France hatte zur Feier des Abends ein rotes Samtjäckchen angelegt und verfolgte seine Bewegungen mit ihren großen Augen und offensichtlichem Gefallen. Vergnügt hatte sie mehrere Gläser Rosado geleert und sich, als sie den ersten Bissen voller Begeisterung genommen hatte, an einer Gräte verschluckt. Marie-France hustete und übergab sich auf den Zackenbarsch. Frantz haute ihr auf den Rücken. Marie-France rang nach Luft. Frantz gab ihr Wasser und versuchte sie zu beruhigen. Dann wählte er die Nummer des ärztlichen Notdienstes. Der Arzt erklärte, da sie atmen könne, sei die Gräte nicht in die Luftröhre gelangt, vielmehr habe sie längst die Speiseröhre passiert und dort lediglich das Gefühl einer Reizung hinterlassen.
Marie-France hatte eine Veränderung in sein Leben gebracht. Aber sie behielten ihre Wohnungen. Das müsse genügen, entschied Frantz. So verbrachte er die Mehrzahl seiner Tage und Abende weiterhin allein. Wenn man sich in vielen Jahren mit der Einsamkeit befreundet hat, fällt es schwer, auf sie zu verzichten, empfand Frantz. Sie enttäuschte einen nicht.
Auf dem Weg zum U-Bahn-Schacht hallen Marie-France’ Worte noch in seinen Gedanken nach. Etwas ändert sich. Er sieht, wie der Mongole in einem Einsatzfahrzeug, es ist eine typische Berliner Wanne, von den Beamten befragt wird. Vermutlich versuchen sie, seine Personalien aufzunehmen. Um die Wanne herum haben sich Schaulustige bedrohlich nah postiert. Es sind die Protagonisten des Kotti. An ihren Gesichtern ist abzulesen, dass sie nicht einverstanden sind mit diesem Eingriff in ihr Habitat. Frantz will nicht, dass sich etwas verändert. Aber es muss sich doch etwas verändern. Es kann doch nicht immer so weitergehen?
Nichts hat sich verändert. Alles ist anders. Man kann es nicht sehen, aber alles ist anders, als es immer war, sagt sich Thomas Frantz. Nur wir sind dieselben. Wir haben uns nicht verändert. Wir waschen dieselben Autos, haben denselben Beruf, die gleichen Erwartungen. Wir fahren in Urlaub, der Nachbar bläst das Laub mit Lärm weg, die Schulen sind nicht geschlossen. Der Tabakladen führt F6, der Spargel kommt im Mai, Bayern wird Meister, am Weihnachtsbaum hängt Lebkuchen. Wir haben uns nicht verändert. Ein Viertel der Bevölkerung feiert nicht Weihnachten. Die Schulen werden nicht renoviert. F6 ist ein Produkt cleveren Marketings, Bayern ein Weltkonzern, und den Spargel stechen die Polen. Wir sind nicht in Indien. Berlin liegt am Ganges, meint Thomas Frantz.
Ein weiteres Einsatzfahrzeug trifft ein. Wohl, um den geordneten Rückzug der Staatsmacht zu gewährleisten. Isst er die Muscheln doch allein. Muscheln und eisgekühlter Weißwein, für ein solches Fest braucht Frantz niemanden.
9. Alexaberlin. Die Metro AG spricht: Frantz, Fred, Cynthia und andere folgen um Mitternacht dem Aufruf des Großkonzerns zum Kaufhaus Alexa
Thomas Frantz sah Cynthia in dem Augenblick, in dem sich eine kleine Furt in der Menschenmenge auftat, als könne sie das Meer teilen. Ihr Kopf war schauerlich verformt. Ihre Stirn wölbte sich über die Nase hinaus und verjüngte sich zur Schädeldecke hin wie bei einem Elefantenmenschen. Oberhalb des rechten Auges prangte eine Beule. Die war neu. Zu allem Überfluss trug sie wieder den Kaffeewärmer, eine cremefarbene Filzmischung aus Damenbaske und Paschtunen-Mütze. Ihr
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