Gehwegschäden
erste Mal sah. Frantz war auf der Suche nach einer Adresse gewesen, einem Journalistenbüro im alten Haus Schwarzenberg neben den Hackeschen Höfen. Vom Hof sah er im Fenster über der Einfahrt eine sitzende schlaksige Gestalt mit einer ovalen Kassengestellbrille. Sie trank Bier, rauchte Zigarre, las Zeitung und war offensichtlich am Scheißen.
Als Kind hatte sich Fred, soweit Frantz wusste, vor allem mit einem Chemiebaukasten beschäftigt. Er hatte die Infinitesimalrechnung drauf, lange bevor seine Klassenkameraden das Wort Dreisatz kannten. Er verschlang Bücher über Newton, Kepler und Heisenberg, als sie im Unterricht hörten, was ein Vektor ist. Es stand ein Bild von Konrad Zuse auf seinem Nachttisch, als der Erfinder des ersten Computers mit binärer Gleitkommarechnung eine Theorie der zellulären Automaten auf die Kosmologie anzuwenden suchte. Fred verfolgte das mit großem Interesse. Etwa genauso früh entdeckte er seine Liebe zum Ethyl. Der Mensch hat ein Recht auf Rausch, sagte Fred. An seinem dreizehnten Geburtstag war er im Bett des Dorfbachs erwacht.
Fred brach sein Physikstudium ab, als die ersten Heim-PCs auf den Markt kamen. Seither ließen ihn die Dinger nicht mehr los. Als Frantz ihn kennenlernte, trieb Fred sich eine Weile als Wissenschaftsjournalist herum. Dann entdeckte er den E-Commerce. Er legte eine Mega-Pleite hin. Davon erholte er sich nur langsam.
In der alten Schmiede hatte sich Fred innerhalb eines Jahres einen Supercomputer gebaut. Er bestand aus alten PCs und Festplatten. Er hatte sie für einen Apfel und ein Ei bei eBay ersteigert und zu einem Hauptspeicher zusammengeschaltet. Wie ein Stacheldrahtverhau umgaben Kabel, Telefonleitungen, Netzteile, Prozessoren, Router und geheimnisvolle Geräte seinen Schreibtisch. Das war ein dunkelbrauner Kasten aus NVA-Beständen. Seither gab es vier Hochleistungsrechner. Die Cray XT5 des Oak Ridge National Laboratory in Tennessee, den IBM Roadrunner in Los Alamos, Albert2 in der Schweiz und Freds PC in der Großen Hamburger. Fred saß inmitten seines elektronischen Zombies vor einem 36-Zoll-Bildschirm der dritten Generation. Er füllte die halbe Tischplatte aus. Fred wippte auf einem amerikanischen Drehsessel aus Leder, wie er in den Wohnzimmern der sechziger Jahre herumstand. Das erinnerte Frantz an Glenn Goulds Kinderstühlchen. Bei seinen Konzerten ragte der Kopf des Pianisten kaum über die Klaviatur.
Es stand noch ein dritter Schreibtisch in einer Ecke. Daran arbeiteten dann und wann junge Frauen, Journalistinnen, die wie Frantz gegen die Verzweiflung anschrieben, surften, bloggten, gruschelten; Fred übernahm in der Regel das Casting. So wie er auch die Bürogeschäfte führte und die Verhandlungen mit der Anwaltskanzlei der Hausverwaltung, wenn die beinahe monatliche Erhöhung der Nebenkosten anstand. Die Nachwuchstalente blieben nicht lange. Sie waren Büronomaden, ergatterten Einjahresverträge und sechswöchige Projekte oder gingen ins Ausland. Dann hockte Ingo manchmal da und verbreitete Stille. Freds Assistent, ein blässlicher Student der Informatik.
Frantz hatte nie verstanden, was der Mann, dem er jeden Tag in einiger Entfernung gegenübersaß, da eigentlich machte. Im Gegenteil. Er hatte früh die Flinte ins Korn geworfen. So, wie er es auf dem Schachbrett tat, wenn Fred ihn in wenigen Zügen am Kanthaken hatte. Frantz akzeptierte diese Überlegenheit als ein naturgegebenes Übel. So, wie man ein Erdbeben oder eine Krankheit hinnahm. Fred schlurfte jeden Mittag herein, ziemlich genau um zwölf Uhr. Es sei denn, er hatte einen kapitalen Absturz hingelegt oder war auf dem Weg zum Büro, wie zum Beispiel um Weihnachten, über einen Glühweinstand auf dem Alexanderplatz gestolpert.
Er hatte dunkel unterlaufene Augen und trank Pfefferminztee aus einem Bierglas. Das war grau und braun vom Satz, weil Fred es noch nie abgewaschen hatte. Fred programmierte den ganzen Tag. Dabei murmelte er manchmal vor sich hin. Zahlen, Kürzel und Worte in einer Sprache, die Frantz nicht verstand. Fred rauchte und programmierte. Er telefonierte mit Ingo, seinem Adlatus. Er telefonierte mit Leuten im Badischen und in der Schweiz. Das waren seine Partner. Er surfte auf seinem Superhighway, lud Schwedenpornos und Japanese Bondage herunter und knabberte Röstbrot. Das sprang aus einem Toaster irgendwo in seinem Maschinenpark. Wenn er nicht telefonierte, klingelten sein Telefon und Handy. Das war Cynthia. Fred reagierte gar nicht oder sehr barsch.
»Lass
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