Gehwegschäden
Körper war zwergwüchsig. Der blaue Anorakkragen verschlang den Rest des Halses, und die Füße steckten in Puppenschuhen. Die Sohlen waren schneeweiß.
Ihre Augen hatten die Farbe der Freude.
Wir spielen hier die 70er, 80er, 90er und das Beste von heute. Fred lenkte, vornübergebeugt, den Rollstuhl mit der Rechten, rauchte und gestikulierte heftig mit der Linken. Seine Brille rutschte ihm auf die Nase. Er schob sie wieder hoch und zog mit geierhaft gerecktem Hals an der Zigarette. Sie flutschte ihm durch die Finger. Er bückte sich, gleichzeitig versuchte er den Rollstuhl einhändig um zwei junge Typen herumzumanövrieren, Araber vielleicht. Sie standen als Einzige noch in der Schneise. Das Vehikel stieß gegen eine Steinkante vor den Tramschienen, bekam Schlagseite, ein Rad hob ab, und als es aufknallte, hätte es Cynthia beinahe herausgeschleudert. Mit Mühe hielt sie sich fest.
»Mensch!«
Ihre Stimme hatte den Klang einer Ente.
»Ja, ey, autsch, ahh, ich hab mich verbrannt …«
Fred lutschte an seinen Fingern.
»Pass doch auf! Ich hab immer noch das Ei auf der Stirn, wo du mich das letzte Mal rausgeschmissen hast!«
»Ischja gut«, maulte Fred.
Und also sprach die Metro AG: Xbox 360 Premium mit 2 Controllern und 4 Spielen, Project Gotham Racing, Kameo, WM 2006 und Colin McRae DiRT nur 249 Euro. Und viel Volk folgte dem Großkonzern auf den Alexanderplatz.
Frantz beugte sich vor und küsste Cynthia auf die Wangen. Sie waren gegen elf verabredet gewesen, um nicht die Letzten in der Schlange zu sein. Ihr Gesicht war warm und weich. Fred hatte Bier dabei, in großen Flaschen. Bei kleineren Flaschen stimmt das Preisleistungsverhältnis nicht. Frantz und Fred stützten sich auf den Rollstuhl. Die Flaschen baumelten in einer Tasche an der Rückenlehne. Sie tranken und entspannten das Spielbein. Sie sahen sich um. Volksfeststimmung. Fred trug sein immergleiches Outfit. Tarnhose, gelb kariertes Jackett, Turnschuhe, Bordeaux-Hemd. Das unterstrich die Sinuskurve seines Körperprofils. Manchmal wechselte er das Hemd. Im Sommer trug er ein olivfarbenes T-Shirt. Er steckte die Flasche in den Getränkehalter in Cynthias Rücken. Frantz stellte sich auf die Zehenspitzen. Aus dem Bahnhof quollen Menschen. Sie strömten von überallher auf den Platz und über die Grunerstraße zum neuen Kaufhaus Alexa. Trauben von Fahrrädern lehnten an Laternen und Zäunen. Die Fenster des Kaufhauses strahlten violett in der Dunkelheit. Darunter leuchte ein roter Schriftzug. Blaulichter.
Da aber sprach die Metro AG: Eröffnung des größten Media-Markts Deutschlands, 24.00 Uhr, Geiz ist geil! Was es heißt, ist klar: Wer zu spät kommt, den beißen die Hunde. Wer zuerst kommt, spielt zuerst. Und wer rechtzeitig hier war, schon weit vor Mitternacht, beladen mit iPod, Bier und Alkopops, der hatte ein klares Bild im Kopf.
Thomas Frantzens Bild war der Toshiba Satellite L40. Der hätte unter normalen Umständen 699 Euro gekostet, im Eröffnungsangebot des Marktes war er für 599 zu haben. Frantz brauchte dringend ein neues Notebook. Der alte Dell war verbeult und langsam geworden. Online gehen konnte Frantz mit ihm nur noch über einen externen USB-Port. Der wackelte, und die Cursortasten waren vom Rotwein derart besoffen, dass sie sich nie richtig erholten. Auf der Tastatur fehlte das »l«. Es sah aus, als hätte der Computer eine Zahnlücke. Seither hatte Frantz Worte mit »l« gemieden.
Fred hatte voll Mitleid auf den alten Dell geblickt. Jeden Tag zwischen Mittag und Mitternacht, wenn Frantz versuchte, unterm Dach der alten Schmiede darauf zu schreiben oder im Schneckentempo herumzusurfen. Dann hatte Fred von der Media-Markt-Eröffnung am Alex gehört und Frantz dazu überredet, in den Toshiba zu investieren. Satte hundert Euro gespart. Ein Arbeitsgerät müsse in Ordnung sein, meinte Fred, der alte Ostpreuße, es trinkt der Mensch, es säuft das Pferd, in Insterburch is umjekehrt. Natürlich war Fred ein Schwabe aus Unggenried bei Mindelheim, aber sein Vater war noch ein Waschechter gewesen und Fred also äußerst preußisch diszipliniert, im Rahmen seiner Möglichkeiten. Er hatte zudem die Sparsamkeit des Schwaben mit der Muttermilch eingesogen und als Erwachsener in vielen Jahren die teilnahmslose Langmut des Ostberliners erlernt.
Seit sie in die Dachkammer gegenüber der jüdischen Oberschule gezogen waren, war Frantz mehr und mehr von Freds Einzigartigkeit überzeugt. Diesen Eindruck hatte er schon gehabt, als er ihn das
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