Gehwegschäden
Locken. »Sie kommen, um sechzehn Euro dreiunddreißig für einen Inkasso-Arsch einzutreiben.«
»Na, na, ma langsam. Det is ’n Rechtsanwalt.«
»Die leben aber inzwischen davon, dass sie Inkasso-Ärsche sind. Ich weiß das«, sagt Frantz.
»Na ja«, die Vollzieherin scheint plötzlich milder gestimmt, »denn überweisen Se’s mir doch einfach. Sie wissen ja gar nich, wegen was die mich schon losgeschickt haben. Wegen drei Euro. Ick sage Ihnen, wegen drei Euro. Ick habe Urteile gesehen wegen vier Euro fuffzich. Dafür sind Leute in den Knast gegangen. Aba Recht is numa Recht und muss Recht bleiben.«
Das rauchende Recht geht in die Knie, beugt sich über ihren Koffer und füllt darin einen Überweisungsschein aus. Ihr Haar oder ihre Kleidung hat einen penetranten Geruch.
Sie händigt Frantz den Schein aus. Ihr Rachen rasselt.
41,33 Euro, liest Frantz. Er wundert sich.
»Ich denke, es sind über neunzig Euro?«
»Wieso?«
»Na, die sechzehn dreiunddreißig des Anwalts und Ihre fünfundsiebzig Euro, macht einundneunzig dreiunddreißig. Hier. Sehen Sie?«
Frantz zeigt ihr das Schreiben des Anwalts.
»Nee. Ick kriech nur fünfundzwanzig. Da hat er die fünfzig Euro Vorschuss mit angerechnet, den er mir zusätzlich geleistet hat für den Fall, dass Sie nich da sind und wir wiederkommen oder die Tür aufmachen müssen. Aba den kriecht er ja von mir wieder.«
»Dann hat der Anwalt versucht, mich zu betrügen? Die zusätzlichen fünfzig Euro, die er Ihnen da als Vorschuss geleistet hat, hätte er doch nie an mich zurücküberwiesen, wenn ich ihm einundneunzig Euro dreiunddreißig geschickt hätte, wie von ihm gefordert! Ich habe noch nie erlebt, dass man von einem Inkasso-Anwalt etwas wiederkriegt …«
Zornesröte steigt in ihm auf.
»Det kann schon sein.« Die entspannte Gerechtigkeit schließt den Koffer und begibt sich zur Tür.
»Vielen Dank«, sagt Frantz.
»Nüscht zu danken.«
Thomas Frantz schließt die Tür. Der Geruch der Gerichtsvollzieherin steht noch in seinem Zimmer. Er ist wütend darüber, dass ihn der Anwalt reinlegen wollte. Gleichzeitig überschlägt er dessen Gewinn. Ein ganz hübsches Geschäft muss das sein. Erst die Märchengebühren, dann der Betrug. So geht das. Wer am Boden liegt, den zieht man aus. So wie man Leichen auf einem mittelalterlichen Schlachtfeld fledderte, stellt Frantz sich vor. Fünfzig Euro pro Kadaver. Da kommen schnell ein paar Tausend zusammen. Im großen Stil noch viel mehr. Und wenn er den Anwalt anzeigte und einen Artikel darüber schriebe? Frantz hat den Aschenbecher noch in der Hand, er könnte ihn glatt an die Wand pfeffern. Dann redete sich die Ratte bloß raus. Nein, beweisen kann er das nicht. Aber wann ist das Maß voll?, fragt er sich kopfschüttelnd auf dem Weg zur Küche. Wann ist der Moment erreicht, in dem eine schlingernde Murmel auf dem Tisch die Kante erreicht und herunterfällt?
Frantz leert den Aschenbecher. 23 Mal entscheidet Frantz. Die Kippen darin sind mit Lippenstift verschmiert und bis zum Filter heruntergeraucht. 23 Mal darf die Gerechtigkeit kommen. Beim 24. Besuch greift der Mensch zur Axt.
19. Frantz geht auf eine Party in den alten Westen, und der Altewesten kackt ab
Seine Kaschuben aus dem Anna Koschke rufen an. Sie seien gleich vor seiner Haustür und wollten ihn abholen, Fred, der Schweizer und auch der Mistkäfer, den sie unterwegs irgendwo aufgegabelt haben. Aber Thomas Frantz soll auf eine Party in den Westen gehen. Es ist ein alter weltberühmter Westberliner Kindertheaterregisseur, zu dem Marie-France will. Er habe einige bedeutende Kinderfilme gedreht, er sei eine große Nummer gewesen und habe all die alten Granden noch selbst gekannt, Fassbinder, Wenders, Schroeter, und nun sitze er in der Jury des Kindertheaterfestivals in Malmö im Komitee für das Kindertheaterstück mit den buntesten Masken und Kostümchen, er geht über einen roten Teppich und bewertet Fingerfarben. Marie-France hat sich ein wenig aufgetakelt, da rufen seine Kumpels an, sie stünden schon am Kiosk vor dem Rosa-Luxemburg-Platz und bestellten ihm bereits ein Bier − Frantz sagt ihnen ab.
Er kann nicht mehr, schließlich ist er nicht mehr der Jüngste, aber muss auf diese Party der kinderlosen Theaterregiegröße in den alten Westen, nach Charlottenburg, ob er will oder nicht. Marie-France hat mit dem inzwischen doch recht betagten Mann einige der großen Erfolge seiner gloriosen Kinderfilmvergangenheit geschnitten, darauf pocht sie vehement,
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