Geier (German Edition)
Einbildung, aber es stand so kalt und unpersönlich da als sei es schon lange verlassen. Ich setzte mich auf den Boden, lehnte mich neben dem Gartenwasserhahn an die Rückwand und horchte. Nichts. Also traute ich mich zur Hintertür hinein, der gleichen Tür, durch die ich das Haus so überstürzt verlassen hatte. Erst gestern? Vorgestern?
Der Geruch war nicht auszuhalten. Verwesung. Mir wurde schon wieder schlecht. Ich klemmte die Nase zu und staunte, wie in dieser Dunkelheit alles auffällig hell glühte – grüne Leuchtdioden auf der Audiotechnik, ein rotes Auge unterm Computer, gelbes Warnblinken von der Stromversorgung her. Der Computer war in Schlafmode – ich weckte ihn, rief die zuletzt aufgenommene Datei auf und schaute, was da war. Bis 18:39 hatte das Programm alles aufgezeichnet, was im Haus passierte. Genauso lange blieb die Digitalverbindung zum Senderstudio in Pismo aktiv. Demnach war alles auf Dickies Rechner gespeichert.
Ich steckte vorsichtshalber die einschiebbare 600GB-Festplatte des Studiocomputers mit der vollständigen Aufnahme in meinen Rucksack, der noch unter der Tonkonsole lag. Zum Glück war der leer, nichts wies darauf hin, wem er gehörte. Dann holte ich meine Klamotten aus dem Gästezimmer. Viel war es ja nicht, aber ich wollte nichts zurücklassen, was darauf schließen lassen konnte, dass ich die letzten Tage hier verbracht hatte.
Was von John übrig war lag auf dem Sofa, das stete Brummen aus seiner Richtung drehte mir den Magen um. Fliegen, riesige bunt schillernde Schmeißfliegen, stellte ich mir vor.
Eigentlich hätte ich ja Fingerabdrücke von der ganzen Technik wischen sollen, Geschirr und Tischplatten putzen, aber das ist Krimikram. Wenn man mittendrin steckt merkt man, dass für solche Kinkerlitzchen weder Zeit noch Magen ist. Außerdem würde mich so was stutzig machen – wenn einer Spuren entfernt, hat er doch Dreck am Stecken, oder? Also ließ ich´s.
Könnte ja immer sagen, dass ich schon am frühen Sonntagmorgen weggefahren bin. Hat mich doch keiner gesehen. Und dass ich in der Big Sur Lodge frühstückte, konnten zwanzig Leute bezeugen. Falls es tatsächlich so weit kommen sollte.
Hauptsache, ich hatte den Beweis gegen die gottverfluchten Bullen dabei. Alles andere würde sich geben. Meine Knarre und mein Telefon steckten in einer der Rucksackaußentaschen, meine Motorradklamotten trug ich.
Ich ging ohne zurückzuschauen zur Hintertür hinaus. Ich wollte nicht lebenslang nachts schreiend aufwachen.
Vom Küstenhighway führt eine einzige Straße über die Berge nach Osten, und die ist keine. Ein steiler Feldweg, eine Spur, die beim geringsten Regen zur Rutschbahn wird. Aber jetzt, im Juni, konnte ich sehr wohl die Mission San Antonio, Lake Nacimiento und den 101 Freeway über das Sträßchen erreichen.
Zeit hatte ich, und die würde ich brauchen. Die Täler des Big Sur Hinterlandes sind noch so naturbelassen wie sie von den entdeckenden Spaniern vorgefunden wurden.
Dass die Eroberer beschlossen, nach jeweils einer Tagesreise eine Mission zu bauen, war das Pech der Franziskaner, die hierher versetzt wurden. Die Missionspadres hatten natürlich versucht, die schroffen Santa Lucia Mountains urbar zu machen, doch sie scheiterten. Die für die Schwerarbeit eingefangenen eingeborenen Angler und Jäger gaben nach kurzem Widerstand gegen die ungewohnte, unwürdige Feldarbeit auf und starben notgetauft, sehr zur Freude der katholischen Missionare. Denn getauft ist getauft – das galt sogar für Indios.
Die nachziehenden weißen Siedler schauten kurz auf das trockene Gestrüpp und den kargen, steinigen, roten Boden, spuckten aus und zogen weiter zur Küste. Deshalb wird die Straßenverbindung vom Big Sur zum Highway 101 nur spärlich benutzt. Sie führt durchs Nichts. Und da will keiner hin.
Außer mir. Ich hielt nach guten zwei Stunden Fahrt auf dem Bergrücken. Vor mir das weite, fruchtbare Salinas-Tal, hinter mir die Wildnis und neben mir Anschluss an die Zivilisation. In Gestalt eines Relaisturmes meines Mobiltelefonanbieters. Hier konnte ich mich wieder mit dem Rest der Welt unterhalten. Ich rief also Dickie an.
Sein Anrufbeantworter schaltete sich ein. „Dienstag früh, Dickie, und ich muss mit dir...“ Da hob er den Hörer ab.
„Mensch, Jon, ich habe schon dauernd probiert, dich zu erreichen. Wo bist du denn?“
„Oben bei Salinas, aber ich fahre nach Fresno weiter.“ Gelogen, aber ich würde doch nicht sagen, wo ich
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