Geier (German Edition)
Tasche.
Wir trafen kurz nach Barstow auf den Interstate Highway 15 und rauschten durch die Sonne nach Vegas. Zusammen mit Tausenden anderen. Ein Verkehr wie Feierabend in Los Angeles. Kein Wunder, dass Vegas jedes Jahr neue Rekorde feiert. Bei so viel Andrang. Und die um uns herum waren ja noch die wenigsten. Im vergangenen Jahr hatten 39 Millionen Leute Las Vegas besucht. Die Hälfte davon flog durch McCarran International Airport ein, der Rest kam mit dem Auto, dem Bus oder der Bahn. Und da traditionell ein Viertel aller Las-Vegas-Reisenden aus Südkalifornien kommt, steckten wir mitten in den dreizehntausend Leuten, die jeden Tag diese Strecke durchs Niemandsland fahren. Pro Richtung.
Die Stadt war nicht mal zu ahnen, als wir hinter Baker von der hohen Wüste in die Glut Nevadas glitten. Auf wenige Kilometer steigt der Highway um fast tausend Meter an, um gleich darauf abzustürzen. Die Steigungen ernähren seit Generationen Abschleppwagenbesitzer, Reparaturwerkstätten und Hotels im Flecken Baker. Wer nicht mit der Rettung und anschließenden Zurbrustnahme havarierter Vegasheimkehrer befasst ist, der wohnt nicht in dieser Einöde. Um kein Geld der Welt.
Winston fuhr wie ein Weltmeister. Eine wahre Sänfte war der Rolls, ein Himmelbett auf gewaltigen Reifen, eine Oase der Ruhe in der Hektik des Spielerhighways. Misty war in sich gekehrt. Ich wollte sie nicht unbedingt aus ihrer Meditation aufschrecken, also schaute ich mir durch die dunklen Scheiben die graugelbe Wüste an und freute mich an ihr.
Las Vegas leuchtete kunterbunt zu beiden Seiten des Rolls, als sie endlich wieder sprach. „Ich werde kurz nach Mitternacht hier fertig sein. Die zweite Vorstellung endet um zehn vor zwölf. Wenn du in der Kasinobar auf mich wartest, können wir gleich wieder heimfahren. Vielleicht noch etwas essen, oder wir fahren durch. Kommt auf dich an.“ Ich nickte.
Sie machte am Künstlereingang des Golden Nugget sofort Furore. Ein gutes Dutzend älterer Herren stand vor der baldachingeschützten Tür herum, und als die Limousine hielt, stürzten sie im Pulk an den Straßenrand. Misty Bea wartete, bis Winston die Tür aufhielt, um dann vorsichtig ein seidenbestrumpftes Bein auf den Bürgersteig zu stellen. Sie wurde sofort umringt.
Winston schloss leise die Autotür. Die Herren standen verloren da und schauten schmachtend auf den Bühneneingang, durch den Misty hoch erhobenen Hauptes verschwunden war. Ich habe immer gemeint, mit sechzehn hört so was auf. Von denen war keiner unter sechzig. Und sie sahen alle aus, als hätten sie Geld. Man fasst es nicht.
Wir fuhren auf den reservierten Parkplatz hinterm Gebäude. Winston lud mich ein, mit ihm einen Kaffee zu trinken. Wir holten unsere Bühnenpässe vom Securitybüro und setzten uns ins Kasino-Café.
„Was willst du unternehmen?“ wollte er wissen. Ich sagte ihm, dass ich einige Anrufe machen würde, und dass ich dazu ein möglichst ruhiges Fleckchen brauche. Er meinte, er wisse genau den richtigen Ort.
Wir tranken unseren Kaffee in kleinen Schlückchen. Das amerikanische Normalgetränk war hier verblüffend stark. Winston lachte über meine Feststellung. „Mann, die wollen dich um jeden Preis wach halten. Deshalb servieren sie nur Infarktkaffee, deshalb sind die Kasinos Tag und Nacht hell erleuchtet, daher gibt´s weder Fenster noch Uhren in den Spielbanken und die Bars sind immer voll. Sperrstunde gibt´s in Nevada nicht.
Jeder, der hier arbeitet, weiß: Müdigkeit ist schlecht fürs Geschäft. Gegen Pleite kann man sich wehren, indem man Kredit einräumt, gegen Unlust wird ständig reiner Sauerstoff in die Kasinos gepumpt, setzt man helle Töne ein, bunte Farben, flackerndes Licht und halb nackte Angestellte. Aber gegen Müdigkeit hilft nur ignorieren. Bis es nicht mehr geht. Du siehst immer irgendwo jemanden schlafen; vorm Spielautomaten, auf Sitzbänken, die Klos sind voller Penner. In jeder Beziehung. Viel guter Kaffee, mein Lieber, und rund um die Uhr Frühstück für drei Dollar.“ Er lachte wieder. „Babylon.“
„Aber echt, Babylon. Die Sündencity der Gottlosen, wo Luxus und Korruption einander die Waage halten – ihr Rastafarians kennt euch ja aus.“
„Ja, Mon, kennen wir. Aber man muss lernen, Babylon hinzunehmen. Denn entkommen kann man seinem Einfluss nicht.“
„True.“ Hat recht. Man kommt nicht drum herum. Also das Beste draus machen.
Ich folgte ihm zu den Fahrstühlen. Er drückte auf den Knopf für den
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