Geier (German Edition)
können?“
„Nee, glaube ich nicht. Das ging alles viel zu schnell, und als der auf die Straße kam, bin ich in die Querstraße eingebogen. Danach habe ich ihn in hundert Metern Entfernung noch mal gesehen, und dann nicht mehr. Die Nummer hat er bestimmt nicht notiert.“
„OK. Das ist die Hauptsache. Sonst stehen die Typen nämlich hier vor der Haustür. Und der, dem du die Stoßstange geplättet hast? Meinst du, dass der das Nummernschild gelesen hat?“
„Glaube ich nicht, denn der hatte den Kopf nach hinten gedreht, als es knallte. Und das Auto sah mir nicht so aus, als würde sein Besitzer sich über noch eine Beule aufregen.“
Und wenn, würde er wahrscheinlich hier anrufen und mit den Bullen drohen, falls der Jeepbesitzer sich nicht erpressen lässt. Winston stimmte mir zu.
„Also sind wir aus dem Schneider“, meinte er. „Du kannst natürlich nicht hierbleiben. Du musst weg. Und ich weiß auch schon, wohin.“
Wenn das so weitergeht, kann ich Reiseberichte schreiben. Also wieder Koffer packen. Sozusagen.
Als ich nachts aufwachte und aus dem Fenster schaute, stand sie wieder im Sternenlicht und rauchte. Und wieder drehte sie sich langsam um, streckte sich, warf die brennende Zigarette weg und hob die Hand, als sie mich anschaute. Ich grüßte auch, stand bewegungslos da, bis sie wieder in ihrem Trailer verschwand und die Tür schloss, und ging dann zurück ins Bett.
Misty schlief unruhig. Ich träumte.
16 Route 66
Ich muss wohl ziemlich belämmert geguckt haben, denn Misty und Winston lachten zugleich los. Wir standen auf einem völlig kahlen, graugelben Sandhügel und schauten ins Tal hinab, aufs ferne Ende des Highways. Dort stand eine nichtssagende Neubausiedlung im grellen Sonnenschein; einige Tausend winzige weiße Einfamilienhäuschen mit knallroten Dächern in handtuchgroßen Gärten, dazwischen neongrüne Golfplätze. Dahinter zwei dunkle, in den wolkenlosen Wüstenhimmel Nevadas weiß dampfende Kraftwerksschornsteine, gefolgt von einer Reihe Hochhäuser am breit und träge fließenden, blau glitzernden Colorado.
Das war Laughlin. Das Retortenvegas. Die Stadt, die sich als Stiefkind verkauft. Laughlin, Nevada, Rentner-Monte-Carlo. Meine neue Heimat.
„Leck mich am Arsch. Hier soll ich glücklich werden?“
„Ich helfe dir dabei. Ich bleibe ein paar Tage hier mit dir“, versprach Misty.
Na ja, wenigstens ein Lichtblick. Ich schaute noch mal rüber. Grauenvoll. Der Fluss war hübsch, die Black Mountains im Hintergrund bekannt – wir hatten sie vor ein paar Tagen ihrer Länge nach durchquert – und die Luft war verblüffend rein. Aber sonst? Katastrophe. Ich sah schwarz für meine unmittelbare Zukunft.
Winston kannte sich aus. Er fuhr in die Siedlung, kurvte an einer Reihe puppenstubenhafter Winzelhäuser im mexikanischen Landstil vorbei, überquerte palmengesäumte Kreuzungen und kam zu einer langen, von Kakteenhecken eingerahmten Allee. An ihrem Ende protzte maurisch-modern das breite, schneeweiße Gebäude des Golfklubs, dessen Greens in unwirklicher Farbe leuchteten. Nur tägliches Düngen, tägliches, stundenlanges Wässern in dieser wasserarmen Wüste und tägliches Mähen können solch grellgrünes Gras herbeizaubern. Total pervers. Völlig unnatürlich.
An der Querstraße bog er rechts ab und steuerte durch eine Villenreihe, deren einziger Vorzug neben Größe die Nähe des Golfplatzes war. In jeder offenstehenden Garage stand mindestens ein elektrischer Golfkarren, die auch den Hauptanteil des Verkehrs auf dieser ruhigen Straße stellten.
Wir fuhren noch einen halben Kilometer weiter, ließen die Villen hinter uns, umrundeten eines der entfernteren Löcher und stellten das Auto vor den überdachten Haupteingang des einzigen Hauses weit und breit. Eine von hohen Palmen gesäumte zweistöckige Villa im Südstaatenstil, deren umlaufende Veranden von dorischen Säulen getragen wurden. Zu beiden Querseiten zeigten backsteingemauerte Kamine an, dass innen mit Holz geheizt wurde. Machte den Eindruck, als würden ausgestopfte Tierköpfe über Marmorsimsen hängen.
Der Kasten erinnerte mich sehr an eine tropische Plantage. Winston wohl auch, denn er stieß mir den Ellenbogen in die Rippen und sprach grinsend: „Wie zu Hause, Mon.“
Einer der beiden schweren Türflügel wurde geöffnet und ein vierschrötiger Herr in kneifender Butleruniform kam die Treppe hinab. Misty umarmte ihn, was nach ihr auch Winston tat. Ich
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