Geiseldrama in Dribbdebach (German Edition)
es mit der Freilassung dann doch nichts wurde. Bei Menschen fremder Rassen konnte man nie wissen, was sie einzustecken imstande sind. Er hatte das Gefühl, sich des guten Tons wegen noch ein wenig um die ausländischen Gäste kümmern zu müssen. „What’s your hometown?“
„We’re both from Hiroshima.“
Hiroshima. Wie den meisten Menschen hatte sich von dieser Stadt ausschließlich das weltberühmte Foto der Trümmerlandschaft nach Abwurf der Atombombe in Herrn Schweitzers Gedächtnis eingeätzt, die von den ausgebrannten Resten des skellettierten Doms überragt wurde und als Mahnmal für spätere Generationen noch heute ihren bedrückenden Zweck erfüllte. Oder erfüllen sollte, wenn man sich die Kriege ringsum in der Welt mal so anschaute. „Oh, Hiroshima, a nice city.“ Was hätte er auch sonst sagen sollen.
„Popic“, meinte der Bankräuber dreieinhalb Minuten später, „Ihr Käseblatt mausert sich. Würde mich nicht wundern, Sie später mal bei der Bild zu sehen.“
Natürlich schmeichelte das seinem Ego. Gerührt nahm Dragoslav Popic die Zeitung entgegen.
Herr Schweitzer beobachtete den Journalisten während des Lesens. Hin und wieder schmunzelte Popic. Unverkennbar spiegelte sich Stolz in seinem Gesicht. Herr Schweitzer bekam das Sachsehäuser Käsblättche erst in die Hände, nachdem es auch von Oma Hoffmann und Uzi gelesen worden war. Johnny und Theresa Trinklein-Sparwasser hatten abgewunken. Dem Weltenbummler aus Desinteresse und der Filialleiterin hätte sich der Sinn des Artikels momentan ohnehin nicht erschlossen. Fleißig starrte sie die Decke an.
Und dann hielt Simon Schweitzer den Meilenstein Sachsenhäuser Journalistik in seinen Händen. Es waren zwar nur vier Seiten, aber die hatten es in sich. Gleich das Titelbild hätte einen Oskar für vorbildliche Retuschierkunst verdient. Ein Sonnenuntergang wie aus dem Lehrbuch tauchte den Schweizer Platz samt Teutonischer Staatsbank in eine nie für möglich gehaltene Farbenpracht. Das Blaulicht der Einsatzwagen harmonierte fantastisch mit den bunten Häuserfassaden. Allein für die Perspektive hätte ein Hubschrauber gemietet werden müssen. Einzig ein Ecke Oppenheimer Landstraße geparktes gelbes NYC-Taxi sorgte für leichte Verwirrung und ließ den aufmerksamen Beobachter, wie zum Beispiel Herrn Schweitzer, mutmaßen, daß hier mehrere Vorlagen mittels Computertechnik zu einem einzigen Gesamtkunstwerk zusammengeflossen sind. Umrandet war das Drama in Dribbdebach, wie Sachsenhausen von den Hibbdebächern und auch sonst genannt wurde, von gut zwei Dutzend Kleinanzeigen, vom Bäcker über die Holzofenpizzeria bis hin zum Hair-Designer. Automatisch fragte sich Herr Schweitzer, was so ein Hair-Designer in unserem Kulturraum zu suchen hatte und was er, da er schon mal hier war, an ihm, Herrn Schweitzer, hätte designen können, so daß ihm seine Haare nicht immer wirr und penetrant in die Stirn fielen und vom Kopf abstanden. Vielleicht sollte er diesen wunderlichen Kauz von Hair-Designer mal aufsuchen. Außerdem hat’s heute gar keinen Sonnenuntergang gegeben, und aus der Entfernung wäre ob des Pißwetters überhaupt keine Teutonische Staatsbank zu erkennen gewesen.
Der Leitartikel selbst war im großen und ganzen identisch mit dem, was Popic seinem Chef telefonisch übermittelte, nur hier und dort hatte Melibocus den Text subtil und schonend verändert. Auf Seite drei kam dann der Hammer. Ein Interview mit dem Innenminister über die Sicherheitslage der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf die zunehmende Gewalt. Hat man da noch Töne, staunte Herr Schweitzer, das Sachsehäuser Käsblättche interviewte den Innenminister. Chapeau. Gewiß, es waren nur sieben Fragen, die wie üblich wahrscheinlich der Pressesprecher beantwortet hatte, aber er war überwältigt. Was immer er über die mannigfaltigen Beziehungen des Herrn Melibocus gedacht hatte, dies mit Sicherheit nicht.
Die letzte Seite listete die Verbrechen auf, die in den ersten Wochen des Jahres 2003 bis dato in Sachsenhausen verübt worden waren. Vom einfachen Autodiebstahl bis hin zur schweren Körperverletzung war alles vertreten. Im Gegensatz zum Leitartikel wurde hier jedoch die Polizeiarbeit positiv dargestellt. Da schien der Chef von seinem sporadischen Zechkumpanen Polizeiobermeister Frederik Funkal wohl einen Draht zu dem Herausgeber zu haben, schätzte Herr Schweitzer punktgenau. Wieso weiß ich das trotz Horchens und Guggens nicht? Wozu treib ich mich denn jeden Abend in
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