Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
seine Geheimnisse nur demjenigen preisgibt, der bereit ist, sich die Hände schmutzig zu machen.
Auch der spätere Charcot hat seine Ikonographie. Fotos und Gemälde aus dem letzten Jahrzehnt seines Lebens stehen im Zeichen von Größe und Ruhm. 1882 hatte Premierminister Gam-betta persönlich einen Lehrstuhl der Neurologie für ihn gegründet, den ersten weltweit. 3 Charcots Ruf war mittlerweile bis weit über die Grenzen Frankreichs und der medizinischen Wissenschaft bekannt. Ein offizielles Porträt - heute im Besitz der Academie de Medecine - zeigt Charcot als Gelehrten, gekleidet für einen akademischen Festakt. Das ist der Charcot, wie man ihn bei einer Promotion gesehen haben muss oder wenn ihm eine Ehrendoktorwürde überreicht wurde. Mittlerweile war er Mitglied, Ehrenmitglied oder Präsident angesehener wissenschaftlicher Gesellschaften, der berühmteste Neurologe seiner Zeit, vom Kaiser von Brasilien und der Königin von Spanien zur Beratung herangezogen, und gemeinsam mit Pasteur das Gesicht der französischen Medizinwissenschaft.
Charcot während einer Anatomievorlesung im Amphitheater von La Salpetriere (1875). Der Zeichner, Brissaud, sollte 1895 als Erster die Hypothese formulieren, die Ursache für die Parkinson-Krankheit liege in einer beschädigten substantia nigra.
Charcot hat Eponyme in einem vor und nach ihm un-überbotenen Umfang vergeben. Dafür waren beide Char-cots vonnöten, der Mann mit der Schürze und der mit der Robe.
Offizielles Porträt von Charcot.
Wenn Charcot vorschlug, den Namen einer Person mit einem Syndrom, einer Krankheit, einem Test oder Symptom zu verbinden, hatte dieser Vorschlag die Macht eines Dekrets. Ob dies nun quasi nebenbei geschah, wie bei der Jackson-Epilepsie, oder nach einer Präsentation medizinischer Argumente, wie bei der Parkinson-Krankheit -Charcot konnte sicher sein, dass ihm die wissenschaftliche Gemeinschaft Folge leisten würde. Die Verleihung von Eponymen war ein Ausdruck seiner Macht. Dasselbe galt für Kraepelin, als er die >Alzheimer-Krankheit< benannte. Aber der Ursprung dieser Macht lag in der Autorität, die sich Charcot als Neurologe erworben hatte. Sie war nicht unantastbar. Macht kann durch die Art ihrer Ausübung untergraben werden. Hätte Charcot immer wieder französische Wissenschaftler bevorzugt, hätte seine Autorität nicht über die Grenzen Frankreichs hinausgereicht. Chauvinismus kann sogar einen in Marmor gemeißelten Ruf erodieren lassen, daher ließ er sich dabei auch nicht erwischen. Indem er vor seinen Studenten und Kollegen bei der Zuerkennung des Epo-nyms an Jackson noch laut mit dem Gedanken spielte, ob es vielleicht nicht besser wäre, ihren Landsmann Bravais in dem Eponym zu verewigen, unterstrich Charcot, dass Wissenschaft für ihn über simplen Patriotismus hinausging. Die Tatsache, dass er Bravais 1887 überging, half, dem Verdacht der Begünstigung bei der Vergabe des >Tourette-Syndroms< 1885 den Nährboden zu entziehen.
Dass Prestige bei der Verleihung von Eponymen eine Rolle spielt, ist auch bei Eponymen zu erkennen, die nicht von Charcot vergeben wurden. Bei fast allen Eponymen ist mit Vor- und Zunamen dokumentiert, wer sie vorgeschlagen hat, was beweist, dass in der Wissenschaft mit einem »Ich taufe dich« Ansehen zu erwerben ist. 4 Fast jeder Artikel über das Bonnet-Syndrom enthält einen Hinweis auf de Morsier (1936), und auf dieselbe Weise ist das Asperger-Syndrom an Wing (1981) geschmiedet. Broca hat seinen Ferrier (1876), Korsakow seinen Jolly (1897), Capgras seinen Levy-Valensi (1929). Aber genau wie bei Charcot - wenn auch in nicht ganz so monumentalem Umfang - ist wissenschaftliches Prestige hier zugleich Bedingung und Folge. Wären Ferrier, Jolly oder Wing nicht selbst Wissenschaftler von hohem Rang gewesen, wäre man ihrem Vorschlag kaum nachgekommen - gesetzt den Fall, sie wären überhaupt in der Position gewesen, ihren Vorschlag auch nur vorzubringen. Die Vorschläge für Eponyme wurden ausnahmslos in den zum jeweiligen Zeitpunkt prominenten Medien wissenschaftlicher Kommunikation geäußert, wie etwa in einer veröffentlichten klinischen Stunde (Charcot), einer Monographie (Ferrier, Damasio), einem Handbuch (Kraepelin) oder einer Fachzeitschrift (de Morsier, Jolly, Levy-Valensi, Wing). Schon der Zugang zu einem solchen Podium verlangt ein gewisses Prestige. Außerdem ist die Sache mit dem Vorbringen des Vorschlags noch nicht abgeschlossen. De Morsier musste die wissenschaftliche Gemeinschaft
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