Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
rhetorischen Verführung der Kartographie so stark wie die Medizin. 1 Der anatomische Atlas kennt eine nahezu ebenso lange Tradition wieder der geographische. 1543 erschien in Basel De humani corporis fa-brica von Andreas Vesalius mit dreihundert Holzschnitten von Jan Stephan van Calcar. 2 Bei den Zeichnungen handelt es sich zwar nicht um Karten und De fabrica ist auch kein Atlas (der Begriff >Atlas< für eine Kartensammlung wurde erst 1585 von Mercator eingeführt), doch auf den Holzschnitten finden wir all jene Elemente, die man von geographischen Karten kennt. Auf einer Zeichnung der Gehirnoberseite sind Buchstaben zu sehen: A und B bezeichnen die rechte und die linke Gehirnhälfte, C die Windungen, die nach vorn ausgestülpten Lappen P sind die feste Hirnhaut, die Lappen O Teile der Spinnwebenhaut. Vesalius hat die beiden Gehirnhälften etwas auseinandergezogen, wodurch in der Mitte der Balken L sichtbar wird. Die Buchstaben ermöglichen es, die Topographie der unterschiedlichen Strukturen detailliert anzuzeigen. In der Legende erklärt Vesalius, was an den jeweiligen Orten zu sehen ist. Er stellt die Tiefenstruktur mit Hilfe von Schraffierungen dar und zeichnet auch die noch intakten Teile des Kopfes und Gesichts. Damit informiert Vesalius gleichzeitig über die relative Größe der unterschiedlichen Gehirnteile, mit anderen Worten, er respektiert den Maßstab der Darstellung.
Noch keine zehn Jahre nach dem Erscheinen von De fabrica ließ Bartolemeo Eustachius, päpstlicher Leibarzt, eine prächtige Kupfertafelsammlung der menschlichen Anatomie anfertigen. Erst nach seinem Tod entdeckte man sie unveröffentlicht in seinem Nachlass. 1714 erschien sie als Tabulae anatomicae 3 Am Rand der Darstellungen ließ Eustachius Maßraster anbringen, wie man sie auch auf Landkarten finden konnte, wodurch die Proportionen genau zugeordnet wurden. In der Legende fungierten die Skalen als Koordinaten.
Diese Abbildung des Gehirns in De fabrica von Andreas Vesalius ist die zweite einer Serie von Instruktionszeichnungen zur Gehirnsektion. In der Widmung einer früheren Ausgabe von Drucken erklärte Vesalius, die Zeichnungen seien eine genaue Wiedergabe dessen, was man sehen könne: »Keine einzige Linie der gezeichneten Abbildung ist unnatürlich; die Abbildungen stellen genau dar, was den Studenten von Padua von den Organen des Körpers gezeigt werden soll.« Die implizite Metapher ist die des Augenzeugen: Van Calcar sollte festlegen, was jemand sehen würde, der bei der Sektion anwesend wäre. Aber um die Wahrnehmung gleich richtig zu lenken, nutzte Vesalius kartographische Konventionen.
In den großen Debatten des neunzehnten Jahrhunderts über die Lokalisierung der Funktionen spielten Karten eine zentrale Rolle. 1810 veröffentlichte Gail mit seinem Partner Spurzheim (1776-1832) eine Abhandlung über das Gehirn. Viele seiner Erkenntnisse hatte er bei Autopsien gewonnen. 4 Dieser Anatomie et physiologie du systeme nerveux war ein Atlas mit Karten von Gehirn und Schädel beigelegt. In gewissem Sinn fand Gail es etwas betrüblich, dass das Gehirn im Schädel eine runde Form hatte, denn seiner Auffassung nach wies es eigentlich eine flache Struktur auf. Einer seiner Schüler, der niederländische Pastor Stuart, schrieb in seinen Herinneringen uit de lessen van Frans Joseph Gail (Erinnerungen aus den Vorlesungen von Frans Joseph Gail), der Wiener Anatom habe bewiesen, dass »das Gehirn eigentlich eine flache Schicht grauer Markstoffe« sei, »über der sich die Nerven ausbreiten und die in Windungen aufgebaut ist. Doch all diese Windungen fallen, nachdem man die dünne Hirnhaut und das spinnwebartige Gewebe entfernt hat, durch eigene Kraft auseinander und präsentieren sich als dünner und sehr weicher Kuchen, fahl von oben, grau von unten.« 5 Ohne die stützende Hirnhaut könne man, so der Gedanke, das Gehirn ausbreiten, und dann wäre die Aufgabe in kartographischer Hinsicht leicht: Das Gehirn ließe sich dann ohne Projektionskunstgriffe wie wachsende Breiten einfach auf die Karte kopieren. Doch leider steckte das Gehirn in Wirklichkeit wie eine schlampig zusammengefaltete Karte im Schädel und der Zeichner
musste sein gesamtes Arsenal kartographischer Techniken auffahren, um die beiden Hemisphären verlässlich auf die flache Ebene zu bekommen.
Abbildung 18 in den Tabulae anatomicae von Eustachius zeigt das sympathische Nervengewebe: Beginnend an der Unterseite des Gehirns und des Rückenmarks, verlaufen die sich
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