Geist Auf Abwegen-Parkinson, Asperger und Co
verzweigenden Nerven in einem doppelten Strang entlang der Wirbelsäule. Der freie Raum auf der Karte wurde für Vergrößerungen des Cerebellums und des Hirnstamms genutzt.
Bei der Projektion der Lage der geistigen Fähigkeiten auf den Schädel entstand dasselbe Problem. Vom Kartenzentrum aus gab es zu den Rändern hin perspektivische Verzerrungen, die man jedoch in Kauf nahm. Da die Fächer nach außen hin immer kleiner wurden, konnte man die Namen der »Werkzeuge des Geistes< nicht mehr direkt hineinschreiben. Obwohl Kartenmacher äußerst kleine Buchstaben gravieren konnten - bis ins neunzehnte Jahrhundert gehörte es zu den Anforderungen an das handwerkliehe Können eines Kartenmachers, dass er das >Vaterunser< auf eine Fläche von der Größe eines Pfennigs schreiben konnte -, war es viel praktischer, die Fächer zu nummerieren und die Karte mit einer Legende zu versehen.
Für Hirnkarten wählten Gail und Spurzheim dieselbe Lösung. Intakte Gehirne wurden dreidimensional abgebildet: von oben, von der Seite, von unten. Tiefen wurden mit Hilfe von Schattierungen sichtbar gemacht, wobei es sich um Tiefen der Oberfläche, der Hirnrinde handelte, nicht des Gehirninneren. Um tiefere Strukturen zu kartieren, stand Gail und
Hirnkarte aus dem Atlas von Gail und Spurzheim , Draufsicht. Mit römischen Zahlen sind die >Gehirnorgane< angegeben. Die meisten befinden sich im Frontallappen (auf dieser Karte an der Unterseite). Die Zahlen stehen nur auf einer Seite: Nach Gail waren alle geistigen Fähigkeiten doppelt repräsentiert.
Spurzheim ein anderes Mittel zur Verfügung, das zudem auch das Problem der Reduzierung auf zwei Dimensionen löste: der Querschnitt. Bei vielen Karten im Atlas handelt es sich um Kartierungen von Gehirnschnitten. Die vertikale Ebene von Stirn bis Hinterkopf bot die Möglichkeit, nicht nur den Ursprung des Gehirns im Hirnstamm und das Kleinhirn abzubilden, sondern auch die geistigen Fähigkeiten, die ihren Sitz in den Windungen des Cortex hatten. Die nummerierten Erhebungen oder Eindellungen des Schädels wurden in der Legende erklärt. Auch auf Querschnittkarten ließen Gail und Spurzheim die Windungen mit ihren Wölbungen und Tiefen mit Hilfe von Schattierungen hervorheben, wie Bergmassive auf einer geographischen Karte. Ihr Atlas enthielt wie ein richtiger Atlas die nötigen Mischkarten.
Aber außer Vollständigkeit, Präzision und Objektivität suggerierten die Karten noch etwas anderes. Was kartiert werden muss, ist - in der Regel - unbekanntes Gebiet, und das weckt Assoziationen zu Entdeckungsreisenden und Pionieren. Gail beanspruchte diesen Titel nie für sich selbst, doch seine Anhänger waren weniger zurückhaltend, wenn es darum ging, die Heroik, die in dieser Metapher lag, für sich zu nutzen. Doornik schrieb in seinen Voorlezingen over F. ]. Gail’s herssen-schedelleer (Vorlesungen über F. J. Gall’s Hirn-Schädel-Lehre), dass der Schädel nun zu der Karte geworden sei, »auf der, wie in einem Atlas, die Gebiete und Orte umrissen sind, in welchen der Mensch, wie in einer kleinen Welt, beschrieben ist. Auf des Menschen Schädel reist man nunmehr wie auf einem Erdglobus umher, um jene Orte zu suchen und zu entdecken, an denen unsere Wahrnehmungen, Begierden, Neigungen und Fähigkeiten ihren Sitz haben.« 6 Doornik bediente sich bei der Wertung von Galls Bedeutung unumwunden der Metapher des Entdeckungsreisenden: »Kolumbus entdeckte eine neue Welt außerhalb von uns; Gail entdeckte eine neue Welt in uns.« 7
Auch nach dem Untergang der Phrenologie übte die kartographische Metapher noch Einfluss auf die Neurologie aus. Sie konnte diesen sogar noch weiter ausbauen. Brocas und Wernickes Werk machte in den Sechziger- und Siebzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts neue Karten erforderlich, damit die Beziehung zwischen Verständnis und Sprache, zwischen der Sprechmotorik und der Repräsentation der Bedeutung von Worten festgelegt werden konnte. Die Einführung experimenteller Techniken wie die der Exstirpation und der elektrischen Reizung der Hirnrinde führte zu einem wahren Strom von Entdeckungen, die eine nach der anderen auf den Karten eingetragen werden mussten. Die veränderte Kartierung des Gehirns erforderte eingreifende Revisionen in den Hirn-Atlanten.
Die Abbildung des Gehirns in einer Zeichnung mit Legende, Maßstab und Koordinaten oder - in einem Wort - die Kartenprojektion machte Neurologen zu Kartographen, Landvermessern, Atlantenmachern. Neurologen profitierten vom
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