Geisterbahn
weiter.
Sie verließ das Wäldchen und betrat den Mittelgang des Jahrmarkts. Der Sturm schlug noch kräftiger auf sie ein als in dem Hain; er hämmerte auf die Kieswege. Aus einigen Buden quoll Sägemehl hervor.
Der Jahrmarkt hatte schon geschlossen. Nur ein paar Lampen brannten noch. Sie schwangen an vom Wind gepeitschten Kabeln und schufen amorphe, tanzende Schatten. Die Besucher der Kirmes waren schon längst nach Hause gegangen, vertrieben vom schlechten Wetter.
Der Festplatz war verlassen. Ellen sah lediglich zwei Zwerge in gelben Regenmänteln; sie eilten zwischen dem Karussell und der knallbunt bemalten Tanzbude entlang.
Ihre Augen wurden vom Mondschein erhellt und schauten in der Dunkelheit neugierig unter den Kapuzen ihrer Regenjacken zu Ellen hinüber, die sich aufs Haupttor zubewegte.
Dabei schaute sie mehrmals zurück, aus Angst, Conrad könnte es sich anders überlegen und ihr folgen.
Zelte kräuselten sich, trommelten und schnappten im Wind und zerrten an Verankerungshaken.
Im strömenden Regen, der nun von Nebelranken durchsetzt wurde, drängte sich das dunkle Riesenrad wie ein prähistorisches Skelett in die Höhe, unheimlich und mysteriös; seine vertrauten Umrisse wurden von der Nacht und dem Nebel verdunkelt und ins Phantastische verzerrt.
Sie ging auch an der Geisterbahn vorbei, für die Conrad die Konzession hatte. Sie war sein Besitz, und er arbeitete dort jeden Tag. Das riesige, spöttisch blickende Gesicht eines Clowns spähte von der Geisterbahn zu ihr hinab; zum Scherz hatte der Künstler es nach Conrads Gesicht geformt. Ellen konnte die Ähnlichkeit selbst im Halbdunkeln ausmachen. Bei ihr stellte sich das irritierende Gefühl ein, daß die großen gemalten Augen des Clowns sie beobachteten. Sie wandte den Blick ab und eilte weiter.
Als sie das Haupttor des Festplatzes erreicht hatte, blieb sie stehen. Abrupt war ihr klargeworden, daß sie gar kein Ziel im Sinn hatte. Sie konnte nirgendwohin. Sie hatte niemanden, an den sie sich wenden konnte.
Der heulende Wind schien sie zu verspotten.
Später an diesem Abend, nachdem die Sturmfront vorbeigezogen war und nur noch dünner, grauer Nieselregen fiel, stieg Conrad auf das dunkle Karussell in der Mitte des verlassenen Mittelgangs. Er setzte sich auf eine der bunt bemalten, kunstvoll geschnitzten Bänke, nicht auf ein Pferd.
Cory Baker, der Mann, der das Karussell bediente, stand an den Kontrollsperren hinter dem Kassenhäuschen und schaltete das Licht des Karussells ein. Er warf den großen Motor an, zog einen Hebel, und die Plattform drehte sich langsam rückwärts. Dampforgelmusik pfiff laut, konnte aber nicht die trostlose Atmosphäre zerstreuen, die diese Zeremonie umgab.
Die glänzenden Messingstäbe pumpten auf und ab, auf und ab.
Die hölzernen Hengste und Stuten galoppierten rückwärts, mit dem Schweif voran, immer und immer wieder herum.
Conrad Straker, der einzige Passagier, starrte starr geradeaus, grimmig und mit verkniffenen Lippen.
Mit einer solchen Fahrt auf einem Karussell löste man auf dem Jahrmarkt traditionell eine Ehe auf. Wenn die Braut und der Bräutigam heiraten wollten, fuhren sie in die normale Richtung, nach vorn; die Scheidung jedoch wurde besiegelt, indem man allein rückwärts fuhr. Diese Zeremonien mochten in den Augen Außenstehender absurd sein, aber für die Jahrmarktsleute waren diese Traditionen weniger lächerlich als die religiösen und legalen Rituale der normalen Welt.
Fünf Schausteller, Zeugen der Scheidung, beobachteten das Karussell: Cory Baker und seine Frau. Zena Penetsky, eines der Mädchen aus der Wurfbude. Zwei Freaks: die dicke Dame, die gleichzeitig auch die bärtige Dame war, und der Alligatormann, dessen Haut sehr dick und schuppig war. Die Fünf drängten sich im Regen zusammen und beobachteten stumm, wie Conrad im Kreis durch die kühle Luft, die hohle Musik und den Nebel fuhr.
Nachdem das Karussell ein halbes Dutzend Umdrehungen mit normaler Geschwindigkeit vollzogen hatte, schaltete Cory den Motor aus. Die Plattform drehte sich allmählich langsamer.
Als Conrad darauf wartete, daß das Karussell anhielt, dachte er an die Kinder, die Ellen eines Tages haben würde.
Er hob die Hände und betrachtete sie, versuchte sich vorzustellen, wie seine Finger ganz rot von dem Blut von Ellens Nachkommen waren. In ein paar Jahren würde sie wieder heiraten; sie war zu hübsch, um lange ungebunden zu bleiben. In zehn Jahren würde sie bestimmt ein Kind haben, vielleicht auch mehrere.
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