Geisterbahn
totschlagen wollen, davon war sie überzeugt. Warum hatte er es sich anders überlegt?
Stöhnend erhob sie sich auf die Knie. Sie schmeckte Blut; ein paar Zähne hatten sich gelockert. Mit einer gewaltigen Anstrengung stand sie auf.
Conrad schloß die Koffer, trug sie an ihr vorbei, stieß die Tür des Wohnwagens auf und warf die Gepäckstücke hinaus. Ihre Handtasche lag auf der Küchenzeile, und die warf er den Taschen hinterher. Dann wirbelte er zu ihr herum. »Und jetzt du. Scher dich zum Teufel, und komm nie wieder zurück!«
Sie konnte nicht glauben, daß er sie leben lassen würde.
Es mußte ein Trick sein.
Er sprach lauter. »Raus hier, du Schlampe! Beweg dich.
Sofort!«
Wacklig wie ein Fohlen, das seine ersten Schritte wagt, ging Ellen an Conrad vorbei. Sie verkrampfte sich vor Angst, rechnete mit einem weiteren Angriff, aber er hob nicht die Hand gegen sie.
»Noch etwas«, sagte Conrad, als sie die Tür erreichte, über deren Schwelle der vom Wind gepeitschte Regen schlug.
Sie drehte sich zu ihm um, hob einen Arm, um den Schlag abzuwehren, von dem sie gewußt hatte, daß er früher oder später kommen würde.
Aber er wollte sie nicht schlagen. Er war noch immer wütend, hatte sich nun aber in der Gewalt. »Eines Tages wirst du in der normalen Welt wieder heiraten. Du wirst ein anderes Kind bekommen. Vielleicht zwei oder drei.«
Seine Stimme verriet, daß es eine Drohung sein sollte, aber die Frau war zu benommen, um zu begreifen, worauf er hinauswollte. Sie wartete, daß er mehr sagte.
Seine schmalen, blutleeren Lippen zogen sich langsam zu einem arktischen Lächeln zurück. »Wenn du wieder Kinder hast, wenn du Kinder hast, die du liebst und umsorgst, werde ich kommen und sie dir wegnehmen.
Ganz gleich, wohin du gehst, ganz egal, wie weit weg, ganz egal, wie du dann heißen wirst. Ich werde dich finden. Das schwöre ich dir. Ich werde dich finden, und dann werde ich dir deine Kinder nehmen, genau wie du mir meinen kleinen Jungen genommen hast. Ich werde sie töten.«
»Du bist verrückt«, sagte sie.
Sein Lächeln wurde zum breiten, humorlosen Grinsen eines Totenkopfs. »Du wirst dich nirgendwo verstecken können. Für dich wird es auf der ganzen Welt keinen sicheren Ort mehr geben. Nirgendwo. Du wirst dein ganzes Leben lang über die Schulter zurückschauen müssen. Und jetzt hau endlich ab, du Miststück! Verschwinde, bevor ich mich dazu entschließe, dir doch noch den verdammten Schädel einzuschlagen.«
Er trat einen Schritt auf sie zu.
Ellen verließ schnell den Wohnwagen, stieg die beiden metallenen Stufen in die Dunkelheit hinab. Der Wohnwagen war auf einer kleinen Lichtung abgestellt und von Bäumen umgeben, aber direkt über ihr war nichts, was den strömenden Regen aufhalten konnte, und nach ein paar Sekunden war Ellen naß bis auf die Haut.
Einen Augenblick lang zeichnete Conrad sich im Umriß im bernsteinfarbenen Licht ab, das die offene Tür ausfüllte.
Dann schlug er die Tür zu.
Ellen spürte, wie die Bäume rings um sie im Wind erzitterten. Die Blätter erzeugten ein Geräusch, als würde die Hoffnung selbst zerknüllt und fallengelassen.
Schließlich hob Ellen ihre Handtasche und die schmutzigen Koffer auf. Sie ging durch die motorisierte Schaustellerstadt, kam an anderen Wohnwagen, Trucks und Autos vorbei; und unter den beharrlichen Fingern des Regens trug jedes Fahrzeug seine blechernen Noten zur Musik des Sturms hinzu.
Sie hatte in einigen dieser Wohnwagen Freunde. Sie mochte viele der Schausteller, die sie kennengelernt hatte, gut leiden und wußte, daß viele von ihnen sie ebenfalls mochten. Während sie durch den Schlamm trottete, schaute sie sehnsüchtig zu einigen der erhellten Fenster, blieb aber nicht stehen. Sie wußte nicht genau, wie ihre Schaustellerfreunde auf die Nachricht reagieren würden, daß sie Victor Martin Straker getötet hatte. Die meisten Jahrmarktsleute waren Ausgestoßene, Menschen, die nirgendwo hineinpaßten; daher beschützten sie einander inbrünstig, und alle anderen sahen sie als Fremde an, die man in der einen oder anderen Hinsicht neppen oder ausnehmen konnte. Ihr starker Gemeinschaftssinn erstreckte sich vielleicht auch auf das schreckliche Kind-Ding. Überdies würden sie sich wohl eher auf Conrads als auf ihre Seite schlagen, denn Conrad war der Sohn von Schaustellern und tingelte von Geburt an mit dem Jahrmarkt durch die Lande, während sie erst vor vierzehn Monaten zum Leben auf dem Rummel übergetreten war.
Sie ging
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