Geisterbahn
auf magische Weise ins Leben zurück, wie sie es erwartet hatte. Es griff nicht an.
Es sah aus wie ein großer, zertretener Käfer.
Ellen kroch von der Leiche davon, die sie im Auge behielt, denn sie war immer noch nicht ganz überzeugt, daß es tot war. Sie war noch nicht kräftig genug, sich schon wieder aufzurichten. Sie kroch zur nächsten Wand und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.
Die Nachtluft war schwer vom kupfernen Geruch des Blutes, dem Gestank ihres eigenen Schweißes und dem sauberen Ozon des Gewitters.
Ellens Atem klang nun leiser, ein rhythmisches Schlaflied des Einatmens, Ausatmens, Einatmens, und auch das Herz schlug allmählich wieder in normalem Tempo.
Als die Furcht von ihr wich, wurde Ellen sich ihrer Schmerzen bewußt. Ihr linker Daumen blutete dort, wo der Nagel abgerissen worden war; das bloßliegende Fleisch brannte, als würde es von Säure zerfressen. Ihre zerkratzten, abgeschabten Finger taten weh, und die Bißwunde in der rechten Handfläche pochte. Beide ihrer Unterarme waren wiederholt von den scharfen Fingernägeln des Geschöpfs eingekerbt und aufgeschrammt worden. Beide Oberarme waren mit je fünf häßlichen, blutenden Einstichen gekennzeichnet.
Sie weinte. Es waren nicht so sehr die körperlichen Schmerzen. Vielmehr halfen die Tränen ihr, viel von den Strapazen und zumindest einen kleinen Teil ihrer schweren Last der Schuld davonzuspülen.
Ich bin eine Mörderin.
Nein. Es war nur ein Tier.
Es war mein Kind.
Kein Kind. Ein Ding. Ein Fluch.
Sie haderte mit sich selbst, versuchte nach wie vor, Begründungen zu finden, die es ihr erlauben würden, mit ihrem Verbrechen zu leben. In diesem Augenblick flog die Tür des Wohnwagens auf, und Conrad trat herein, erhellt vom stroboskopähnlichen Flackern eines Blitzes. Er trug einen tropfnassen Regenmantel aus Plastik; sein dichtes, schwarzes Haar war klatschnaß, und einzelne Strähnen klebten auf seiner breiten Stirn. Wind stob hinter ihm hinein, drehte, wie ein Hund, einen Kreis durch den Raum und beschnüffelte alles neugierig. Nackte Furcht ergriff Ellen und schnürte ihr die Kehle zu.
Conrad zog die Tür hinter sich zu. Als er sich umdrehte, sah er, daß sie auf dem Boden saß, den Rücken gegen die Wand gelehnt, die Bluse zerfetzt, Arme und Hände blutig.
Sie wollte versuchen, ihm zu erklären, warum sie das Kind getötet hatte. Aber sie konnte nicht sprechen. Ihr Mund bewegte sich, aber es kam lediglich ein trockenes, furchterregendes Krächzen daraus hervor.
Conrads eindringliche blaue Augen schauten einen Moment lang verwirrt drein. Dann wanderte sein Blick von Ellen zu dem ebenfalls mit Blutflecken verschmierten Kind, das vielleicht einen Meter von ihr entfernt leblos auf dem Boden lag.
Seine starken Hände ballten sich zu großen, harten Fäusten. »Nein«, sagte er leise und ungläubig. »Nein ... nein ... nein ... « Er trat langsam zu dem kleinen Leichnam. Ellen schaute mit wachsender Beklommenheit zu ihm hoch. Benommen kniete Conrad neben dem toten Geschöpf nieder und starrte es lange an; ihr kam es wie eine Ewigkeit vor. Dann rollten Tränen seine Wangen hinab. Ellen hatte ihn noch nie zuvor weinen sehen. Schließlich hob er den schlaffen Körper auf und drückte ihn an sich. Das helle Blut des Kindes tropfte auf das Plastik des Regenmantels.
»Mein Baby, mein kleines Baby, mein süßer kleiner Junge«, sagte Conrad zärtlich. »Mein Junge ... mein Sohn ... was ist mit dir geschehen? Was hat sie dir angetan? Was hat sie getan?«
Ellens wachsende Furcht verlieh ihr neue Kraft. Sie stützte sich mit einer Hand an der Wand ab und richtete sich auf. Ihre Beine zitterten; sie hatte weiche Knie und wagte es nicht, auch nur einen einzigen Schritt zu machen.
Conrad hörte, daß sie sich bewegte, und sah sie an.
»Ich ... ich mußte es tun«, stammelte sie.
Seine blauen Augen waren kalt.
»Es hat mich angegriffen«, sagte sie.
Conrad legte die Leiche auf den Boden. Sanft. Zärtlich.
So zärtlich wird er mit mir nicht umspringen, dachte Ellen.
»Bitte, Conrad. Bitte, versteh mich doch.«
Er erhob sich und machte einen Schritt auf sie zu.
Sie wollte davonlaufen. Sie konnte es nicht.
»Du hast Victor umgebracht«, sagte Conrad mit schwerer Zunge.
Er hatte dem Kind-Ding einen Namen gegeben - Victor Martin Straker -, was Ellen lächerlich vorgekommen war. Mehr als nur lächerlich. Gefährlich. Wenn man erst einmal anfing, es bei einem Namen zu nennen, würde man es früher oder später für ein
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