Geisterbahn
Vater würde er sehr vermissen. Amy hingegen um so mehr. Die Vorstellung, Amy zu verlassen und sie nie wiederzusehen, schnürte seine Kehle zu. Er hatte das Gefühl, schreien zu müssen.
Hör auf damit! Sei hart!
Er biß sich auf die Zunge, bis der Drang zu schreien nachließ und er sicher war, sich wieder unter Kontrolle zu haben.
Wenn er jetzt von zu Hause fortlief, bedeutete das keineswegs, daß er Amy nie wieder in seinem Leben sehen würde. Spätestens in ein paar Jahren würde auch sie ihr Elternhaus verlassen, ein eigenes Leben führen, und dann konnte er wieder zu ihr. Sie konnten zusammen in einer Wohnung in New York City oder an einem anderen tollen Ort leben, und Amy würde eine berühmte Malerin sein, und er würde endlich erwachsen werden. Wenn er in ein paar Jahren auf Amys Schwelle stand, würde sie ihn nicht zu Mama schicken; Amy nicht.
Jetzt fühlte er sich schon besser.
Er legte sein Geld zurück in den großen Mason-Krug und schraubte den Deckel fest zu. Dann stellte er die Spardose auf den Schreibtisch zurück.
Er würde sich von der Bank Münzpapier besorgen und die Vierteldollarmünzen, die Zehn- und Fünfcentstücke einrollen und in Scheine umtauschen müssen. Er konnte nicht mit den Taschen voller klingelnden Kleingelds von zu Hause weglaufen; das wäre kindisch.
Er schlüpfte wieder ins Bett und löschte das Licht.
Das einzig Dumme am Davonlaufen war, daß er den Jahrmarkt im Juli verpassen würde. Er hatte sich schon fast ein ganzes Jahr darauf gefreut.
Mama hielt nichts davon, auf die Kirmes zu gehen und sich unter die Schausteller zu mischen. Sie sagte, diese Leute seien schmutzig, gefährlich und allesamt Gauner.
Joey hatte jedoch kein großes Vertrauen mehr zu Mamas Urteilen über andere Menschen. Wenn man Mama Glauben schenkte, gab es auf der ganzen weiten Welt kaum einen Menschen, der ohne Sünde war.
In den letzten Jahren hatte sein Vater ihn einige Male am Samstag, dem letzten Tag, mit auf den Jahrmarkt genommen. Manchmal hatte er aber einfach zuviel in seiner Kanzlei zu arbeiten und konnte sich nicht freimachen.
Dieses Jahr hatte Joey vor, sich allein auf den Rummelplatz zu schleichen, der keine drei Kilometer vom Haus der Harpers entfernt lag: Man mußte nur zwei Straßen entlangfahren, um dorthin zu gelangen. Man fand den Platz problemlos; er lag hoch oben auf dem Hügel. Joey hatte vor, seiner Mutter zu sagen, er wolle an diesem Tag in die Stadtbücherei gehen. Aber dann wollte er mit dem Fahrrad zum Kirmesplatz fahren und sich einen schönen Vorund Nachmittag machen, und Mama würde gar nichts davon erfahren.
Dieses Jahr wäre es besonders schade, den Jahrmarkt zu verpassen, weil er größer und besser denn je sein würde.
Der Mittelgang wurde von einer anderen Firma als in den früheren Jahren gestellt. Dieser Jahrmarkt war wie aus einem Guß, der zweitgrößte der Welt, zwei- oder dreimal so groß wie der alte Jahrmarkt in Royal City. Es würde viel mehr Karussells als in den anderen Jahren geben, viele neue aufregende Dinge, die man sehen und erleben konnte.
Aber er würde davon nichts mitbekommen, wenn er dreihundert Kilometer weit weg war und ein neues Leben in einer fremden Stadt anfing.
Fast eine Minute lang lag Joey in der Dunkelheit und bedauerte sich - dann setzte er sich im Bett auf, wie elektrisiert von einer brillanten Idee. Er konnte von zu Hause ausreißen und trotzdem auf den Jahrmarkt gehen. Er konnte beides. Es war ganz einfach: Er würde mit dem Jahrmarkt durchbrennen!
Am Donnerstag morgen kamen die Testergebnisse aus dem Labor. Amy war offiziell schwanger.
Am Donnerstag nachmittag fuhren sie und Mama zur Bank und hoben von Amys Sparbuch Geld für die Abtreibung ab.
Am Samstag morgen sagten sie Amys Vater, sie würden ausgiebig einkaufen gehen. In Wahrheit fuhren sie zu Dr.
Spanglers Klinik.
Am Empfangstresen kam Amy sich wie eine Kriminelle vor. Weder Dr. Spangler noch seine Kollegen, Dr. West und Dr. Lewis, noch irgendeine seiner Schwestern waren katholisch; sie nahmen jede Woche Abtreibungen vor, jahrein, jahraus, ohne ein moralisches Urteil über ihr Vorgehen zu fällen. Amy hingegen fühlte sich nach so vielen Jahren der intensiven religiösen Unterweisung so, als würde sie zu einer Komplizin bei einem Mord werden, und sie wußte, daß sie eine lange, lange Zeit mindestens einen Rest von Schuld empfinden würde, der einen Makel auf jedes Glück werfen würde, das sie vielleicht erlangen könnte. Sie konnte noch immer kaum glauben,
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