Geisterbahn
Fingerspitze auf das VIP-Abzeichen, das Max Freed ihr gegeben hatte. »Mr. Frederickson hat mir gesagt, ich dürfe mich überall auf dem Mittelgang umsehen. Wissen Sie, wer er ist? Kennen Sie Mr. Frederickson?«
Gunther antwortete nicht. Er stand einfach da, groß wie ein Lastwagen, und schaute zu ihr hinab, das Gesicht hinter der Maske verborgen, die Arme schlaff an den Seiten hinabbaumelnd.
»Mr. Frederickson gehört dieser Jahrmarkt«, sagte sie geduldig. »Sie müssen ihn kennen. Er ist wahrscheinlich Ihr Boß. Er hat mir gesagt, ich könne mich überall umsehen.«
Schließlich ergriff Gunther wieder das Wort. »Rieche Frau.«
»Was?«
»Rieche Frau. Riecht gut. Hübsch.«
»O nein«, sagte sie, und ihr brach der Schweiß aus.
»Will hübsche Frau.«
»Nein, nein«, sagte sie. »Nein, Gunther. Das wäre nicht richtig. Das würde Sie nur in Schwierigkeiten bringen.«
Er schnüffelte erneut. Die Maske schien ihn daran zu hindern, den gewünschten Geruch aufzunehmen, und er hob die Hand, riß das Gesicht von Frankensteins Ungeheuer ab und enthüllte sein eigenes.
Als Janet sah, was von der Maske verborgen worden war, stolperte sie auf dem Gleis zurück und schrie.
Bevor jemand ihren Schrei hören konnte, war Gunther mit einem Satz bei ihr und brachte sie mit einem Schlag seiner großen Hand zum Schweigen.
Sie brach zusammen.
Er warf sich auf sie.
Fünfzehn Minuten, bevor die Tore des Jahrmarkts für die Öffentlichkeit geöffnet wurden, trat Conrad einen letzten Inspektionsgang der Geisterbahn an. Er schritt die gesamte Länge des Gleises ab, um sich zu vergewissern, daß keine Hindernisse darauf lagen, keine vergessenen Werkzeuge oder Bretter, die eine der Gondeln zum Entgleisen bringen konnten.
In der Halle der Riesenspinnen fand er die Tote. Sie lag auf den Gleisen, unter einer der riesigen falschen Taranteln. Sie lag mit gespreizten Gliedern auf ihrer blutigen Kleidung - nackt, voller Prellungen, aufgeschlitzt. Der Kopf war ihr abgerissen worden; er lag mit dem Gesicht nach oben einen Meter von ihrem Körper entfernt.
Conrads erster Gedanke war, Gunther hätte eine Frau vom Jahrmarkt getötet. Das wäre zweifellos das Schlimmste gewesen, was passieren hätte können. Die Leichen von Fremden konnte man so beseitigen, daß die Polizei von jedem abgelenkt wurde, der mit den Big American Midway Shows zu tun hatte. Wenn jedoch eine Schaustellerin vergewaltigt und verstümmelt aufgefunden wurde, müßte die Polizei sich auf dem Jahrmarkt selbst umsehen, und Gunther würde früher oder später ihr Interesse erregen. Die Schausteller akzeptierten den Jungen, wie sie alle Freaks akzeptierten, weil sie nichts von seinem unbeherrschbaren Drang wußten, zu vergewaltigen, zu töten und Blut zu schmecken. Er war nicht immer so gewalttätig gewesen. Die Schausteller wußten, daß er anders als sie war, hatten aber keine Ahnung, wie gefährlich anders er während der letzten drei Jahre geworden war, als sich bei ihm verspätet der Geschlechtstrieb eingestellt hatte. Niemand schenkte Gunther große Beachtung; er war fast sein Schatten in ihrer Mitte, eine marginale Erscheinung. Aber wäre eine Schaustellerin ermordet worden, würde man Gunther genauer unter die Lupe nehmen, und dann gäbe es keine Möglichkeit mehr, die Wahrheit zu verbergen.
Nach einem ersten Anflug von Panik erkannte Conrad, daß die Tote keine Schaustellerin war. Er hatte ihr Gesicht noch nie zuvor gesehen. Es bestand noch eine Chance, Gunther und sich zu retten.
Ihm war klar, daß er nicht viel Zeit hatte, die Leiche verschwinden zu lassen und alle Spuren zu verwischen. Er trat um die blutigen Überreste und eilte zum Ende der Halle der Riesenspinnen. Kurz bevor er die nächste Biegung der Gleise erreichte, trat er aus der Spur der Gondeln und kletterte auf ein Tableau, das zwei bewegliche Gestalten zeigte: einen Mann und eine mannsgroße Spinne, die sich in einem tödlichen Zweikampf fest umschlungen hielten, sich jetzt, da es keine Zeugen für ihren Kampf gab, allerdings nicht bewegten. Der Mann und die Tarantel posierten vor aufeinander liegenden Felsen aus Pappe.
Conrad trat hinter die falschen Felsbrocken und kniete nieder.
Der Schein der Arbeitslampen über den Gleisen reichte nicht bis hierher. Er streckte eine Hand in die Dunkelheit vor ihm aus und tastete über den groben Bretterboden.
Nach ein paar Sekunden fand er den Ringbolzen, nach dem er gesucht hatte. Er zog an dem Ring und öffnete eine Falltür, eine von sechs, die zu
Weitere Kostenlose Bücher