Geisterbahn
sehr, als daß sie sich darüber amüsieren konnte. Amy war verlegen berührt, sowohl wegen der Erinnerung an ihre Schwangerschaft und die schon beharrlich verdrängte Abtreibung als auch wegen der mitleiderregenden Freaks, die in diesen Verschlägen posierten, um sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Sie wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, ihnen zu helfen, aber die gab es natürlich nicht, und so hörte sie zu, wie ihre Freunde wohlfeile Witze rissen, lächelte pflichtschuldig und versuchte, sie zur Eile anzutreiben.
Seltsamerweise war das erschreckendste Ausstellungsstück der Freakshow das Baby in dem riesigen Glasgefäß.
Alle anderen menschlichen Kuriositäten lebten und waren so groß, daß sie durchaus eine Bedrohung darstellen konnten, aber das tote, harmlose Ding in dem Krug, das niemanden mehr bedrohen konnte, brachte Amy Harper am stärksten aus dem Gleichgewicht. Seine großen, grünen Augen starrten blind aus dem Glasgefängnis; die aufgeblähten, verzerrten Nasenöffnungen schienen in die Richtung zu schnüffeln, in der Amy, Liz, Buzz und Richie standen; die schwarzen Lippen waren geöffnet, und die bleiche, gesprenkelte Zunge war sichtbar, und es sah so aus, als würde das tote Geschöpf sie anknurren, sie und sonst niemanden, als würde es den Mund schließen, nachdem sie gegangen waren.
»Unheimlich«, sagte Liz. »Gott im Himmel!«
»Es ist nicht echt«, sagte Richie. »Es hat nie gelebt. Es ist einfach zu unheimlich. Kein Mensch könnte so einem Wesen das Leben schenken.«
»Vielleicht war es auch kein Mensch«, sagte Liz.
»Aber das steht auf dem Schild da«, stellte Buzz fest.
»>1955 als Sohn normaler Eltern geboren<.«
Sie alle schauten zu dem Schild an der Wand hinter dem Gefäß hoch, und Liz sagte: »He, Amy, seine Mutter hieß
Ellen. Vielleicht ist er dein Bruder.«
Alle lachten - außer Amy. Sie starrte das Schild an, die fünf großen Buchstaben, die den Namen ihrer Mutter bildeten, und ein weiteres Zittern der Vorahnung durchdrang sie. Sie kam sich vor, als sei ihre Anwesenheit auf diesem Jahrmarkt kein Zufall, sondern Schicksal. Sie hatte das unheimliche und entschieden unangenehme Gefühl, daß ihre siebzehn Lebensjahre sie nirgendwohin sonst, sondern einzig und allein zu dieser Nacht der Nächte hatten führen müssen. Sie wurde geschickt gesteuert, ständig manipuliert; wenn sie über ihren Kopf griff, würde sie die Fäden des Puppenspielers spüren.
War es möglich, daß dieses Ding in der Flasche tatsächlich Mamas Kind gewesen war? War es der Grund dafür, daß Mama darauf bestanden hatte, Amy müsse ihr Kind sofort abtreiben lassen?
Nein. Das ist verrückt. Absurd, dachte Amy verzweifelt.
Ihr gefiel die Vorstellung nicht, daß ihr Leben unausweichlich auf diesen winzigen Punkt auf dem Antlitz der Erde ausgerichtet war, auf diese Minute in den Trillionen Minuten, die den Fluß der Geschichte bildeten. Dieser Gedanke ließ sie fühlen, als treibe sie hilflos dahin.
Es waren nur die Drogen. Wegen der Drogen konnte sie ihren Wahrnehmungen nicht vertrauen. Kein Gras mehr, nie wieder!
»Ich mache ihrer Mutter keine Vorwürfe, daß sie es getötet hat«, sagte Liz und betrachtete das Ding in dem Glas eindringlich.
»Es ist nur ein Gummimodell«, beharrte Richie.
»Ich sehe es mir mal näher an«, meinte Buzz und glitt unter dem Seil her, das die Zuschauer zurückhalten sollte.
»Buzz, nicht!« sagte Amy.
Buzz ging zu der Plattform, auf der das Gefäß stand, und beugte sich näher heran. Er streckte die Hand aus, legte sie auf das Glas und ließ die Finger langsam auf der Vorderseite des Krugs hinabgleiten, hinter dem sich das Gesicht des Ungeheuers befand. Dann riß er die Hand abrupt zurück. »Du Arschloch!«
»Was ist los?« fragte Richie.
»Buzz, komm bitte zurück«, sagte Amy.
Buzz tat wie geheißen und hielt die Hand hoch, damit sie es alle sehen konnten. An einem seiner Finger war Blut.
»Was ist passiert?« fragte Liz.
»Muß eine scharfe Kante am Krug gewesen sein«, sagte Buzz.
»Geh lieber zum Wagen mit den Sanitätern«, sagte Amy.
»Der Schnitt könnte infiziert sein.«
»Nee«, sagte Buzz, entschlossen, keinen Riß in seiner Macho-Fassade zu zeigen. »Es ist nur ein Kratzer. Aber komisch ist es trotzdem. Ich habe keine scharfen Kanten gesehen.«
»Vielleicht hast du dich gar nicht an dem Glas geschnitten«, sagte Richie. »Vielleicht hat das Ding da drin dich gebissen.«
»Es ist tot.«
»Sein Körper ist tot«, sagte Richie, »aber
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