Geisterblumen
drinnen sein. Aber auch der Täter. Mir würde wohl nichts anderes übrig bleiben, als das Wagnis einzugehen, doch dann hörte ich ein Wiehern.
Ich drehte mich um und sah das große, wilde Pferd. Das Pferd, das Roscoes Familie hatte loswerden wollen, das Pferd, das sie Medusa nannten, weil es die Menschen erschreckte.
Unsere Blicke begegneten sich. Die Stute stampfte mit dem Huf auf und blähte die Nüstern,
als wollte sie sagen:
Na los, worauf wartest du?
Ich mochte Bain und Bridgette getäuscht und sie davon überzeugt haben, dass ich eine Hochstaplerin war … ein Pferd aber konnte man nicht täuschen.
Ich wusste, was ich zu tun hatte. Ich ergriff Grant unter den Achselhöhlen und zog ihn zur Koppel. Nachdem ich das Gatter geöffnet hatte, flüsterte ich: »Hier, mein Mädchen.« Sie schaute mich unglücklich an, als wollte sie sagen:
Vorhin hast du mich nicht beachtet, und jetzt soll ich dir helfen.
»Es tut mir leid, Liebling. Ich hatte keine andere Wahl.«
Und als verstünde sie meine Worte auf jene unheimliche Weise, in der mich Pferde immer verstanden haben, schüttelte sie einmal die Mähne und kam auf mich zu. Einfach so. Als hätten wir uns gestern zuletzt gesehen.
Sie beugte den Kopf, und ich hievte Grant auf ihren breiten Hals. Vorsichtig stieg ich hinter ihm auf, drückte ihn mit einer Hand an mich, und klammerte mich mit der anderen an die Mähne. Dann schnalzte ich mit der Zunge, versetzte ihr einen leisen Tritt, und auf ging es.
Es heißt, dass man Radfahren nicht verlerne. So ging es mir mit dem Reiten, nur war es noch natürlicher für mich, wie Atmen, und mir war, als hätte mir etwas Lebenswichtiges gefehlt, das mich erst jetzt wieder zu einem vollständigen Menschen machte. Das hier war nicht irgendein Ritt. Ich ritt nach Hause.
Jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich konnte nicht länger bestreiten, dass ich wirklich Aurora Silverton war, dass ich nie jemand anderes gewesen war. Als N. Martinez meine Fingerabdrücke auf den Namen hin überprüft hatte, hatte er mein Geheimnis entdeckt – und es für sich behalten. Jetzt aber würde es bekannt werden. Und irgendwie waren alle Gründe, aus denen ich mich als jemand anders ausgegeben hatte, nun hinfällig.
Erinnerungsfetzen wehten an mir vorbei. Der Abend, an dem alles begonnen hatte, an dem ich
während der Party draußen herumgelaufen war und geflüstert hatte:
Colin, wo bist du?
Colin?
Wegen dem, was Stuart mir angetan hatte, hatte ich mich seiner nicht würdig
gefühlt. Weil ich eine
dreckige Hure
war.
Der Strahl einer Taschenlampe, der auf mein Gesicht fiel. Schmerz. Dunkelheit. Fernes Gelächter. Flüsternde Stimmen.
Die Toilette einer Raststätte bei hellem Tageslicht.
Eine Zeitung, aus der ich erfuhr, dass sieben Tage vergangen waren.
Ich hatte immer noch keine Ahnung, was in jenen sieben Tagen passiert war. Doch als ich aufgewacht war, waren mir zwei Dinge klar: Liza war tot, sie hatte anscheinend Selbstmord begangen; und die Polizei wollte mich befragen. Ich konnte mich nicht an die Party erinnern oder wie ich an diesen Ort gelangt war.
Es gab nur eins, dessen ich mir sicher war: Ich musste weg. Ich war hier nicht sicher.
Liza mochte tot sein, aber
ich
war diejenige, der man eine Falle gestellt hatte.
Mit den Jahren kehrte meine Erinnerung teilweise zurück, wie die fehlenden Teile eines Puzzles, und ich gelangte zu der Überzeugung, dass man mich in jener Nacht hatte töten wollen. Motiv oder Täter waren mir völlig unbekannt. Ich wusste nur, dass ich durcheinander und verängstigt war, wenn ich an Colin, Bridgette und Bain dachte. Colin hatte kein Motiv, mir weh zu tun, Bridgette und Bain hingegen schon. Besser gesagt, es gab zwischen zwanzig und vierzig Millionen Gründe, je nach Altheas aktuellem Testament.
Nach Ninas Tod kehrte ich nach Tucson zurück, um in der Nähe meiner Familie zu sein, einen Plan hatte ich aber nicht. Und dann war Bain in das Starbucks marschiert, in dem ich gearbeitet hatte, und hatte mir die perfekte Gelegenheit geliefert. Wenn selbst er und Bridgette mich für eine Hochstaplerin hielten, wäre ich in Sicherheit. Und hätte die Chance, nach dem nötigen Beweis zu suchen. Zumal ich gewusst hatte, dass Colin sich freiwillig zum Militärdienst gemeldet hatte.
Aber auch was ich N. Martinez erzählt hatte, entsprach der Wahrheit – ich wollte mir meine Familie aussuchen. Und ausgesucht werden.
Grant stöhnte.
»Story«
, murmelte er immer wieder.
»Alles wird gut, du kannst mir die
Weitere Kostenlose Bücher