Geisterblumen
er einen Zettel herausnahm, etwas darauf kritzelte, seinen Stuhl nach hinten schob und aufstand. Als Bridgette Tasche, Pullover und Sonnenbrille einsammelte und zur Tür ging, trat er an die Kasse und schob mir den Zettel über die Theke.
»Wir möchten dir ein Angebot machen. Ruf an, wenn du interessiert bist.«
Ich steckte den Zettel rasch in meine Schürzentasche, wobei ich Bridgettes Blick auf mir spürte. Da war ein Ausdruck in ihrem Gesicht, den ich nicht deuten konnte, jedenfalls war er nicht freundlich. Sie spielte mit dem Ring an ihrem Finger.
Als ich Pause hatte, holte ich den Zettel aus der Tasche. Auf einer Seite befand sich eine mit Bleistift geschriebene Liste. Auf der anderen standen mit Tinte zwei Zahlenreihen. Die eine war eine Telefonnummer. Die andere ein Betrag:
100000
$. In bar
, war dahinter gekritzelt.
Ich hörte Ninas Pfiff, auf den sie so stolz gewesen war, als würde sie neben mir stehen. Mein Gott, wie gern hätte ich sie jetzt an meiner Seite gehabt. »Du musst etwas haben, auf das sie
wirklich
scharf sind«, hörte ich ihre Stimme verwundert in meinem Kopf sagen.
Das musste ich wohl. Ich drehte den Zettel noch einmal um und überflog die Liste. Vermutlich Bridgettes Handschrift; sie schien zu ihr zu passen. Oben drüber stand
Für Marisol
und darunter:
Inhalt des Gewürzregals ausräumen, mit feuchtem Tuch auswischen, in alphabetischer Reihenfolge wieder einräumen. Medizinschrank ausräumen, mit antibakteriellen Tüchern (die blauen, nicht die gelben) auswischen und in chronologischer Reihenfolge vom frühesten zum spätesten Ablaufdatum wieder einräumen.
Plötzlich sah ich vor mir, wie sie das Gleiche mit mir tat, den Inhalt ausräumte, mich sauberwischte und in einer neuen, verbesserten Reihenfolge wieder einräumte.
Sie ist ein Mensch, mit dem ich nichts zu tun haben möchte
, dachte ich. Ich schob den Zettel zurück in die Tasche, setzte eine neutrale Miene auf und ging wieder an die Arbeit.
2. Kapitel
» V ergessen ist schwerer, als sich zu erinnern«, hatte Miss Melanie immer gesagt. Sie hatte neben meiner letzten Pflegefamilie in den Efficiency Suites Apartments gewohnt. Sie war die älteste Bewohnerin des Häuserblocks und eine Art inoffizielle Hausmeisterin. Ich sehe sie noch in ihrem zerkratzten Kunstleder-Sessel sitzen, den wir für sie auf das Flachdach des Hauses geschleppt hatten, und meiner Pflegeschwester Nina die Haare flechten. Neben uns kickten einige Jungs aus dem Wohnblock einen halbaufgepumpten Ball durch die Gegend. Der staubige Sommerabend umfing uns. Es war heiß, sengend heiß, obwohl die Sonne schon untergegangen war, doch wenn man hoch genug hinaufstieg, spürte man eine leichte Brise.
Miss Melanies Hände bewegten sich wie Hummeln, schossen hin und her, hoch und nieder und hielten nur lange genug inne, um einen tiefen, zischenden Zug aus ihrer Zigarette zu nehmen. »Du kannst es wieder und wieder versuchen«, sagte sie, »aber die Erinnerungen sind immer noch da und warten auf dich wie die Schläger hinter dem Schnapsladen.«
»Schön wär’s«, erwiderte ich lachend.
»Das ergibt aber keinen Sinn, Miss M«, rief einer der Fußball-Jungs. »Wenn das so wäre, hätte ich nur Einsen und würde alle Prüfungen bestehen, statt mit diesen Losern abzuhängen.«
Die anderen johlten, doch Miss Melanie beachtete sie nicht. »Warte ab.«
Ich hatte gewartet, war aber immer noch vom Gegenteil überzeugt. Im Vergessen war ich ganz groß. Ich war eine professionelle Vergesserin. Mein Gedächtnis scheint geplündert worden zu sein, und zwar nicht mit professioneller Präzision, sondern grob und rücksichtslos. Mir bleiben nur Erinnerungsfetzen, die lose herabbaumeln wie die roten Fleischstücke in den Zombiefilmen. Scheinwerferlicht auf einem nassen Gehweg oder »Tom Yaw« oder die Silhouette meiner leiblichen Mutter, die sich gerade zu mir umdrehen will.
Ich kann mich nicht an das Gesicht meiner leiblichen Mutter erinnern. Wenn ich sie vor mir sehe, dann immer von hinten, wie sie vor einem Gemälde oder einem Bild, meist aber am Ozean steht. Sie geht darauf zu, steckt ihre Zehen hinein und spürt den schimmernden, kühlen Sand, während das kalte Wasser ihre Füße berührt und die Krebse sie kitzeln. Ohne sich umzudrehen, streckt sie die Hand nach mir aus, doch ich bleibe am Ufer stehen und beobachte die langbeinigen Vögel, will herausfinden, warum manche wegfliegen und andere dableiben. Als ich meine Mutter danach frage, antwortet sie: »Jeder hat
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