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Geisterblumen

Geisterblumen

Titel: Geisterblumen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michele Jaffe
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die Wahl.«
    Sie flog. Ich blieb. Obwohl man es wohl auch andersherum betrachten könnte.
    In Tucson gibt es keinen Ozean, aber viele Möglichkeiten, sich zu ertränken. Ich meine das nicht metaphorisch – das Leben ist auch ohne Wortspiele kompliziert genug. Ich meine, dass man in etwas so Banalem wie einem Teller Hühnersuppe ertrinken kann. Im Grunde ist man immer nur durch drei Zentimeter Flüssigkeit vom Tod entfernt. Deshalb habe ich auch nie verstanden, weshalb Leute so einen Aufstand um ihren Selbstmord machen. Jede Suppe aus dem Supermarkt reicht völlig aus, um sein Leben zu beenden.
    Auslöser für eine Erinnerung kann ein dunkles, moosbewachsenes Ufer mit unerwarteten Wurmlöchern sein, die einen in unbekannte Regionen der eigenen Psyche führen, aber es war kein großes Geheimnis, weshalb ich am Muttertag an meine Mutter dachte. Allerdings habe ich mich gefragt, ob es nicht doch ein winziges Loch gab, in das ich unwissentlich gestolpert war, etwas in mir, das sich nach einer Familie sehnte und an das ich unabsichtlich rührte. Und ob mich das letztlich dazu brachte, es zu tun.

3. Kapitel
    D er Rest des Tages bis Ladenschluss blieb irgendwie verschwommen. Dann schlug Roman zu.
    »In der Kasse fehlen zehn Dollar«, verkündete er und schaute mich an. »Ich hoffe, du weißt, was das bedeutet.«
    Er machte einen Schritt auf mich zu. Ich wich einen Schritt zurück.
    »Ich habe nichts damit zu tun.«
    »Wer dann?« Noch ein Schritt auf mich zu. Die Kaffeemaschine drückte sich in meinen Rücken.
    »Ich weiß nicht.« Ich griff nach hinten, um mich abzustützen, wobei sich meine Finger um den Griff einer der Ostertassen schlossen, die gerade im Angebot waren.
    »Und, was hast du jetzt vor?« Noch ein Schritt, und sein Körper würde sich an meinen pressen. Sein Atem ging schon schwer, seine Augen fixierten meine Brüste. Sie waren nicht groß, aber sein Ausdruck verriet mir, dass sie vollkommen ausreichten. »Ich glaube, ich muss dich durchsuchen.«
    Mein Arm schoss vor, und der schwere Keramikbecher traf ihn an der Wange knapp unterhalb der Augenhöhle. Der Becher zerbrach, und er taumelte keuchend nach hinten.
    »Du blöde Schlampe«, sagte er und drückte die Hand aufs Auge. »Du blöde Schlampe, ich hätte blind werden können.«
    Ich wollte ihn korrigieren. Ich wusste, was ich tat, so gefährlich war es nicht gewesen. Aber er kam wieder zu sich, es war Zeit für mich zu verschwinden.
    »Du blöde Schlampe«, wiederholte er, als fände er Gefallen daran, und kam erneut auf mich zu. Er versperrte mir den Weg zum Ausgang. »Dafür wirst du bezahlen. Ich werde …«
    Er streckte seine fleischige Hand nach mir aus, doch ich duckte mich, so dass er die Balance verlor. Als er stolperte, schnappte ich mir seine Schlüssel, die neben der Kasse lagen, und rannte zum Ende der Theke. Ich spürte, wie seine Finger in die Gesäßtasche meiner Jeans griffen, doch ich lief weiter. Mein Herz hämmerte so laut in meinen Ohren, dass ich kaum hörte, wie der Stoff zerriss. Dann stolperte ich abrupt nach vorn.
    »Ich rufe die Polizei. Du blöde …«
    Ich kroch auf Händen und Knien zum Durchgang in der Theke. Er wollte meinen Fuß festhalten, aber ich trat nach ihm und wurde durch ein Stöhnen belohnt. »Du blöde Schlampe, ich lasse dich verhaften. Du kommst ins …«
    Den Rest hörte ich nicht mehr. Ich war an der Tür und fummelte mit den Schlüsseln am Schloss herum.
Herrgott, warum funktionierten meine Finger nicht? Verdammt nochmal …
    Und dann war ich draußen in der warmen Abendluft, sah die dunkle Silhouette der Berge vor dem Blau und Gold des dämmrigen Himmels. Ich rannte los – wie lange oder wie weit, kann ich nicht mehr sagen. Irgendwann musste ich stehen bleiben. Ich lehnte mich keuchend und weinend gegen einen rostroten Felsblock. Ich schaute auf meine Hände. Sie waren übersät mit Splittern von rosa, lavendelfarbener, grüner und weißer Keramik, weil ich über die Scherben des Bechers gekrochen war. Ein kleines gelbes Gänseblümchen vom Rand baumelte in einem seltsamen Winkel an meiner linken Handfläche. Ich schaute mich um und hatte keine Ahnung, wo ich war.
    Ich hatte von nichts eine Ahnung und konnte nur einen klaren Gedanken fassen. Falls Roman wirklich die Polizei gerufen hatte, durfte ich nicht mehr zurück in mein Zimmer. Viel besaß ich ohnehin nicht, keine Spur, die zu mir geführt hätte, aber es bedeutete auch, dass ich nichts mehr hatte als meinen Ausweis und die Kleidung, die ich am

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