Geisterfahrer
Glas Wein?«
»Bier wäre mir lieber.«
Kuhle nickt ein Ich-erinnere-mich-Nicken und verschwindet. Ich kann den Blick kaum von den Puppen im Regal abwenden.
»Das ist Lukas, unser Sohn«, erklärt Sabrina, während ich auf dem hart gepolsterten Rattansofa Platz nehme, und sie lächelt dabei. In der Tür steht ein etwa acht Jahre alter, im Gegensatz zu seinen Eltern ziemlich blasser, etwas pummeliger Junge mit hellen, blauen Augen. Ich springe wieder auf. Das Kind trägt eine Art Baumwolloverall.
»Hallo, Lukas.« Ich verstehe erst jetzt. Sie haben ein Kind. Der Junge sieht mich kurz an, lächelt etwas verschämt, lehnt sich an Sabrina, lässt sich auf die Stirn küssen und tapert dann in die Spielzeugecke. Kuhle kommt zurück und reicht mir ein ökologisches Landbier. Ich staune das Etikett an, nehme einen Schluck. Kuhle setzt sich neben Sabrina, sie legt eine Hand auf seinen Oberschenkel.
»Wie ist … wie ist das möglich ?«, frage ich endlich.
»Erstaunlich, oder?«, sagt Kuhle lächelnd.
Ich kann nur nicken.
»Er ist der beste Mensch, den ich kenne«, sagt Sabrina.
»Nein, der bist ja schon du«, erklärt Kuhle, und dann küssen sie sich. Vom Eintreffen von Aliens, der Durchführbarkeit von Zeitreisen, der Hochzeit von Alice Schwarzer mit Dieter Bohlen und dieser Situation hier hätte ich das, was ich gerade sehe, bis gestern als unwahrscheinlichste Möglichkeit eingeschätzt. Kuhle und Sabrina sitzen vor mir und küssen sich. Sie sind verheiratet. Sie haben ein Kind namens Lukas. Sie leben in einem Manufactum-Katalog, trinken Weißwein und schenken ökologisches Landbier aus. Sie sind Psychotherapeuten .
Und draußen ist der Himmel inzwischen wahrscheinlich rosaviolett-kariert.
»Dein Bruder hat gesagt …«
»Mein Bruder!«, ruft Sabrina, ihr Gesichtsausdruck verändert sich. »Mein Bruder ist ein mieser, schmutziger …«
Kuhle legt eine Hand auf ihren Oberschenkel und unterbricht sie. »Nicht vor dem Jungen.«
Sabrina nickt langsam. »Er ist ein wirklich schlechter Mensch«, flüstert sie angestrengt.
»Aber …« Ich bringe meine Fragen nicht heraus. Ich weiß nicht einmal, in welcher Reihenfolge ich sie stellen soll.
Kuhle lächelt ein ungewohntes Lächeln, vielleicht benutzt er es bei seinen Sitzungen.
»Eins nach dem anderen.« Er prostet mir zu, sagt »Cin cin!« Dann nippt er an seinem fragilen Weißweinglas. Ein riesiger Eisbär trinkt aus einem Fingerhut.
»Dieser … Angriff«, sagt Sabrina. »Das war nicht Michael. Er kam erst später dazu. Er hat versucht, mir zu helfen, den anderen noch einzuholen, doch ich habe das nicht verstanden und ihn in der Aufregung für den Angreifer gehalten – und das haben dann alle getan. Der eigentliche Täter war ein anderer. Aber ich habe das erst sehr viel später erfahren.«
»Und wer? Ich meine – wer war der verschissene Täter?«
»Christian«, sagt Kuhle und verzieht das Gesicht: »Könntest du vielleicht … vor Lukas … nicht so reden?«
»Oh. Tut mir leid.« Ich sehe zu dem Jungen, der mit merkwürdigen Holzgegenständen spielt und uns zu ignorieren scheint.
»Christian?«, flüstere ich, als wäre das ein nicht lukaskonformes Schimpfwort. »Dein Bruder?«
Sabrina nickt. »Er hat sich verplappert, fast vier Jahre später, bei meinen Eltern. Er kam betrunken von der Arbeit, und da hat er es ihnen erzählt. Ich habe dann Michael aufgesucht und mich bei ihm entschuldigt. Wir haben lange und viel geredet, uns erst angefreundet … und dann ist es passiert.« Sie massiert wieder seinen gewaltigen Oberschenkel.
»Dein eigener Bruder hat versucht …« – ich senke die Stimme – »… dich zu vergewaltigen ?«
Sie sieht mich an. »Ich weiß nicht, ob es wirklich der Versuch war, das zu tun. Auf jeden Fall wollte er mir Gewalt zufügen.«
»Und Kuhle hat dich gerettet?«
Sie nickt strahlend.
»Warum hast du mir das nicht gesagt?«, frage ich ihn.
Hinter der runden Brille blitzen seine Augen wieder. »Du hast mir damals diese Chance nicht gegeben, sondern bist einfach abgehauen. Du hast geurteilt, meine Version spielte offenbar keine Rolle.« Er sieht mich fest an. »Aber ich habe dir verziehen.« Und dann blickt er zu den beiden tschechischen Marionetten.
Den Ton, in dem er das sagt, habe ich von ihm nicht in Erinnerung. Etwas in mir fühlt sich wie ein Patient in einer Therapiesitzung.
»Das ist nett«, sage ich, und ich meine es auch. Er reagiert nicht.
»Christian pflegt unsere Eltern, das ist das Gute, was man über ihn sagen kann«, doziert Sabrina, und
Weitere Kostenlose Bücher