Geisterfahrer
kaufte ich mir einen StereoDoppelkassettenrecorder, sobald das Geld ausreichte. Mit Herrn Pirowskis Hilfe, der immer noch mein Klassenlehrer war, zudem Physik unterrichtete und sich mit Elektronik auskannte, ergänzten wir das Mischpult meines Vaters um eine Buchse, die man mit dem Recorder verbinden konnte. Auf diese Art besaß ich ein kleines Studio, und damit konnte ich etwas, wozu keiner meiner Klassenkameraden in der Lage war: Ich konnte Tapes abmischen .
Tapes hatten sich zur einzigen Möglichkeit entwickelt, mit Mädchen zu kommunizieren, und mein Interesse daran, mit Mädchen zu kommunizieren, hatte sich dramatisch gesteigert. Seit einigen Monaten nahm ich deutlich an Fülle zu, was der KuhlmannDiät zu verdanken war, und obwohl ich mich selbst immer noch als dürr und knochig empfand, hatten meine Aktien an Wert gewonnen. Zudem ließ der Nachfolger unseres kürzlich an Krebs verstorbenen Sportlehrers keine Ausreden mehr zu, kein Sichzurückziehen auf Hilfestellung, Gerätetransport und Schiedsrichteraufgaben, was meine Freude am Sport zwar nicht steigerte, den Effekt der Ernährungsumstellung aber verstärkte. Selbst der arme Kuhle hatte bei Herrn Mahler nichts mehr zu lachen. Während er die Sportstunden bis dato lesend auf einer Bank verbracht hatte, ohne je ein Attest vorzuweisen, nötigte ihn Mahler zu Ballsport, Leichtathletik und, was Kuhle besonders hasste, schwimmen. Kuhle mochte nicht nur keinen Regen, er empfand Wasser grundsätzlich als Belästigung, als Gift. Die größte denkbare Demütigung aber bestand darin, eine schlauchbootgroße Badehose anziehen zu müssen, sich in ein gechlortes Becken abzusenken – zu springen war schlicht unvorstellbar – und schnaufend etwas zu versuchen, das nur gutwillig als Brustschwimmen zu bezeichnen war. Neben dem Schnaufen gab er rhythmische Heulgeräusche von sich, die klangen, als hätte ihm jemand die Eier hinter dem Rücken zusammengebunden.
Die Harmonie des ersten Schuljahres hatte sich in Luft aufgelöst. Kuhle war zwar immer noch unangefochtener Klassensprecher und stellte eine Art Generalkompetenz in allen Streitfragen dar, aber das lag, wie ich vermutete, vor allem daran, dass er aufgrund seiner Leibesfülle unfreiwillig sexuelle Neutralität ausstrahlte. Weder die Jungs noch die Mädchen betrachteten ihn als einen der Ihren, von mir einmal abgesehen, der ich ganz genau wusste, wie sehr Kuhle ein Junge war, der ebenso wie wir alle davon träumte, zu küssen, wie es im Film getan wurde, und vielleicht sogar ein bisschen mehr zu tun. Wir waren noch Jungfrauen, Kuhle und ich, dafür aber nach wie vor Wichser vor dem Herrn, und obwohl hier und da behauptet wurde, es bereits getan zu haben, nahm ich das eigentlich keinem meiner Mitschüler ab.
Nicht erst mit der verstärkten Rolle der Geschlechterfrage hatte sich unsere Klassengemeinschaft zu einer amorphen Ansammlung von Kleingruppen und Cliquen entwickelt, wobei wir Jungs unter uns weit weniger Unterschiede machten als die Mädchen unter ihresgleichen. Und für alle Jungs der Klasse galt uneingeschränkt: Für die Mädchen unseres Jahrgangs waren wir personae non gratae. Wir existierten schlicht nicht mehr. Nur die männlichen Schüler der Jahrgänge über uns durften sich in der Sonne ihrer Beachtung bräunen. Uns blieben die Mädchen der achten und siebten Klassen, wenn überhaupt.
Es sei denn, man hatte coole Tapes.
Schallplatten waren teuer, aber Musik musste sein, und deshalb zeichneten wir die Songs aus dem Radio auf oder kopierten die Kassetten unserer Klassenkameraden, wobei sich mit jeder Kopie die Qualität verschlechterte. Bei den Aufnahmen fehlten die Anfänge und die Enden, oder man hatte das Geplapper von Radiomoderatoren mit im Stück. Jedenfalls ging es den anderen so. Ich hatte ja mein Mischpult – und offenbar etwas Talent. Und deshalb konnte ich Tapes produzieren, bei denen die Songs nicht abrupt mittendrin begannen oder endeten, je nachdem, wie gut man es geschafft hatte, die Eingangsansage abzuwarten oder am Ende durchzuhalten, den Griff des Moderators zum Fader zu erahnen. Manchmal verarschten einen die Ansager, schoben noch einen Satz hinterher, nach einer Pause, obwohl alles gesagt war. Oder blendeten aus, obwohl der beste Teil des Stücks noch fehlte. Es kam nicht selten vor, dass meine Mitschüler eine Hitparadensendung im Radio nur anhörten, um die x-te Version eines Songs aufzunehmen, den sie unbedingt auf Tape brauchten.
Ich benutzte zwar auch solches Material, aber
Weitere Kostenlose Bücher