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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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ich konnte es nachbearbeiten, ich konnte Übergänge zaubern, fließende Abfolgen von Titeln, manchmal sogar den Rhythmus haltend, in die ich, Kuhles Ratschlägen folgend, ältere Stücke aus dem Bestand meines Vaters einfügte. Die Tapes nannten wir »Hit-Mix«, »Tim’s Best«, »Kuhle Musik« oder ähnlich, entwarfen Kassettenhüllen, auf denen wir die Buchstaben mit Schlagschatten versahen, bunt ausmalten, um Smileys ergänzten.
    Mit diesen Tapes schufen wir ein Angebot, das es bis dahin nicht gegeben hatte, und wir waren überrascht, welche Nachfrage wir damit auslösten. Quasi über Nacht wurden wir zu Stars an unserer Schule, zu Leuten, die viel von Musik wussten und die auch noch Kassetten herstellen konnten, die völlig frei von abgehackten Ansagen waren, die durchgehende Tempi, manchmal sogar – wir wurden rasch besser – Themen hatten. Wir ernteten Anerkennung von den Mädchen in unserer Klasse, sogar von den Schülern der oberen Jahrgangsstufen. Die Tapes erwiesen sich zudem als einträgliches Geschäft, da ich vom Master Kopien ziehen konnte, die weitgehend von gleichbleibender Qualität waren, während Kuhle im Schreibwarenladen Schwarzweiß-Kopien der Cover machte. Wir schlugen ein wenig auf den Herstellungspreis auf, und manchmal verschenkten wir auch Tapes. Von einem, das besonders beliebt war, nötigte mir Kuhle das Original ab, dann nahm er all seinen Mut zusammen, um Sabrina anzusprechen, die bereits in die Oberstufe ging und noch immer das schönste Mädchen der Schule war. Sie freute sich über das Tape, aber am nächsten Tag kam sie zu mir und sagte: »Du hast wirklich Talent für so was. Wie läuft’s in Geschichte?«
    Ich war so verdutzt, dass mir keine Antwort einfiel, aber Sabrina hatte sich bereits wieder umgedreht und flog auf ihre Ecke des Schulhofs zu, einen Kometenschweif der Irritation hinterlassend. Vor allem bei Kuhle, der etwas abseits gestanden und die Szene beobachtet hatte.
    Der Nummer-eins-Hit in Deutschland an diesem Tag war »Come Back And Stay« von Paul Young.

12. Disco
    Ich war Realist genug, um die Sabrina-Episode nicht falsch einzuschätzen, was Kuhle längst nicht so gut gelang. Er war noch wochenlang sauer auf mich – auf Kuhle-Art. Zwar belastete es unser Verhältnis nicht, denn wir verbrachten unsere komplette Freizeit miteinander, wozu es einfach keine Alternative zu geben schien, deren es allerdings auch nicht bedurfte, aber er stichelte deswegen, nannte mich, eher scherzhaft, einen Verräter oder fragte nach der Fertigstellung eines besonders gelungenen Tapes: »Nur für Sabrina, oder?«
    Ich legte dann den Kopf schief und lächelte ihn an. Meistens lächelte er auch.
Inzwischen glaubte ich den Klassenkameraden ihre Geschichten vom ersten Sex. In zwei Monaten würde ich sechzehn werden, und ich beschloss, dass es Zeit war, zum Angriff überzugehen. Durch unsere Tapes war ich an der Schule inzwischen bekannt wie eine karierte Katze, und ich konnte problemlos jedes Mädchen ansprechen, ohne gleich eine Abfuhr zu riskieren, da ich mich zu jemandem entwickelt hatte, mit dem man sich gerne zeigte. Mein Selbstbewusstsein war gestiegen, hatte sich überhaupt erst entwickelt, zumal Mama Kuhlmann mir immer häufiger über die dunkelblonden, fast schwarzen Haare strich und Sachen zu mir sagte wie: »Du wirst von Tag zu Tag hübscher. Ich glaube, ich muss meine Töchter vor dir verstecken.«
Ich genoss das sehr, aber für die Kuhlmann-Töchter bestand nicht die geringste Gefahr, obwohl ich durchaus wahrgenommen hatte, wie mich insbesondere die beiden älteren ansahen. Nein, ich wusste ganz genau, wem ich meine Aufmerksamkeit widmen musste.
Melanie Schmöling ging in die Parallelklasse. Sie war eine zarte, grazile Person, hatte etwas Engelhaftes, was durch ihre strahlendhellblonden, bis zur Hüfte herabreichenden Haare unterstrichen wurde. Ihre Schönheit war von völlig anderer Art als die der fast erwachsenen, herb-schönen Sabrina. Melanies schmale, feingliedrige Erscheinung war schon von weitem zu sehen, obwohl sie zu den kleineren Mädchen unseres Jahrgangs gehörte; sie war von einem Glanz, einer Aura umgeben, sie ragte heraus, als würde sie auf einem Podest durch die Gegend geschoben. Melanie besuchte unsere Schule seit Anfang des Jahres. Sie war schüchtern. Und sie wurde von meinen Mitschülern umschwärmt, als wäre sie ein Stück Pflaumenkuchen und die Jungs ein Haufen Wespen auf einem Balkon an einem Sommertag. Häufig konnte man auf dem Hof beobachten, wie

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