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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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Straßenbeleuchtung sehen. Ein etwa dreißig Meter langes Stück Straße verlief dort, ab und an waren ein paar Trabants und ein Wartburg geparkt, Menschen auf dem Gehsteig sah ich nie. Wer wohnte dort? Privilegierte? Ausgestoßene? Vielleicht würde ich mir irgendwann mal ein Fernglas besorgen, um die Sache genauer zu inspizieren.
Ein Jahr zuvor, 1988, war ich zum ersten und bisher letzten Mal drüben gewesen. Schon in der Antragsstelle für das Visum – Westberliner konnten nicht einfach mit dem Pass rüber – war ich beinahe durchgedreht, in dieser miefigen Baracke in der Nähe der Gedenkbibliothek. Kreidebleiche Grenzpolizisten ohne erkennbare menschliche Regungen hielten einen DDR-Außenposten, und sie ließen die Westler schmecken, was es bedeutete, quasi den äußersten Fingernagel des Kommunismus zu repräsentieren.
Und dann die Grenzkontrollen. Wir standen eine gute Stunde neben Franks weißem Triumph Spitfire, den drei Grenzpolizisten durchsuchten, als würden wir in irgendeinem Versteck die Konterrevolution transportieren. Frank musste sich in einer dunklen Kabine bis auf die Unterhosen ausziehen. Währenddessen klaute ein Grenzer den ovalen, schwarz-rot-gelb gerandeten Aufkleber mit der Aufschrift »Ich bin Energiesparer«, der im Handschuhfach des Wagens lag und der zu dieser Zeit auf vielen Autos klebte. Ich sah es, sagte aber nichts.
Ostberlin sah aus, als hätte jemand die Sechziger konserviert, aber die Farbe ausgewaschen. Die wenigen moderneren Gebäude strahlten schmutzige Willkür aus. Wir versuchten, in einem Restaurant im Roten Rathaus zu essen, gaben aber auf, weil uns nach einer halben Stunde Wartezeit immer noch kein Tisch zugewiesen wurde, obwohl kaum Gäste im Restaurant saßen und Frank schließlich mit einem Zehnmarkschein winkte. Im »Gastmahl des Meeres« gab es nach einer weiteren halben Stunde Wartezeit keine einzige der Speisen, die auf der Karte standen. Wir landeten in einer grausigen, schmucklosen Pinte zwei Querstraßen vom Alexanderplatz entfernt, tranken abscheuliches Bier, das zweiundzwanzig Pfennige kostete, und aßen gummiartige Wiener Würstchen, die innen ausschließlich aus Wasser bestanden, der Senf zerfloss zu einer urinfarbenen Soße. Die Menschen um uns herum sahen aus, als wären sie Statisten in einem Kriegsfilm. Niemand lachte, und alle beäugten uns stumm. Musik gab es auch keine.
Frank wollte unbedingt ins Café Nord, eine Art Diskothek an der Schönhauser Allee. Schon von weitem war eine lange Warteschlange zu sehen. Ein junger Typ, der zwei verschiedene, ausgelatschte adidas-Turnschuhe trug, sprang uns fast vors Auto und meinte, er wisse, wo wir richtig Spaß haben könnten. Er zwängte sich auf den Notsitz und lotste uns nach Marzahn.
Nach ewiger Fahrt durch trübe Plattenbauschluchten landeten wir in einer Gegend, die nach einer Mischung aus Arbeitslager und Orwells »1984« aussah. Nirgendwo stand ein Baum, ab und zu knatterte ein Zweitakter an uns vorbei, aber es stank nach Abgasen, als gäbe es Millionen davon. Die Feuerwache war ein Jugendklub. »Urst was los da«, sagte der junge Mann, der mir eine HB nach der anderen abschnorrte und dem es nichts ausmachte, im eiskalten Fahrtwind zu hocken. Wir parkten ein und hatten in null Komma nichts die Aufmerksamkeit der kompletten Gegend; Kinder drängten sich um das Auto.
Der »Klub« verströmte das Flair eines Tanznachmittags im Altenheim, erinnerte mich aber auch ein kleines bisschen an die erste Mucke, damals in der Schule. Der SPU allerdings hatte meine volle Hochachtung. Er war ein schon etwas in die Jahre gekommener Herr, der die vorgeschriebene Mischung von Ost- und Westmusik präsentierte. Er arbeitete mit Kassetten, und zwar ziemlich professionell. Die Übergänge kamen beeindruckend sauber, was mit Kassetten wirklich eine Kunst ist, und auch mit der Qualität des Materials – Westmusik vor allem aus Radiomitschnitten – kam er exzellent zurecht.
Wir hätten in diesem Laden wahrscheinlich nur mit dem Finger auf irgendein Mädchen zeigen müssen, ließen es aber. Es war deprimierend, und ich drängte Frank, so schnell wie möglich wieder abzuhauen, also drückten wir dem Mitfahrer unsere Zwangsumtauschreste in die Hand und verschwanden wieder. Am Wagen stand ein mittelalter Mann, der mit krächzender Stimme erklärte, dass wir uns außerhalb des Bereichs befänden, in den man als Westberliner noch dürfe. Wir machten, dass wir nach Hause kamen. Noch tief im Westen ließ mich die Angst nicht los,

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