Geisterfahrer
anschließend verfehlte und der Gegner ausmachte. Zudem musste man die niedrigstwertige Kugel nur anspielen; wenn diese anschließend die Neun traf und versenkte oder die weiße Kugel von der getroffenen abprallte, um die Neun ins Loch zu schubsen, war das Spiel ebenfalls gewonnen. Und genau das hatte Neuner jetzt vor. Ich bevorzugte klassisches Pool, Achterball, aber Neuner zog Neunerball vor, deshalb hieß er so. Sein richtiger Name lautete Bert, und er verabscheute diesen Namen.
Gegen Neuner war man beim Neunerball bestenfalls Sparringspartner. Er wollte Profi werden, irgendwann, oder wenigstens so ein ausgefuchster Geldsammler wie Paul Newman in »Die Farbe des Geldes« oder eigentlich »Haie der Großstadt«, dem Vorläufer des Scorsese-Films mit Tom Cruise, dessen Mentor der ältere Paul Newman gewesen war. Wir hatten beide Filme gut und gerne zwei Dutzend Mal gesehen. Ob ein Profispieler, dem beide Schneidezähne fehlten und der dazu neigte, nach einem doch mal verlorenen Spiel wie ein Wahnsinniger auszuflippen und mindestens sein Queue zu zerdreschen, eine Chance auf dem internationalen Parkett hätte, wagte ich zu bezweifeln. Neuner hatte seine Schneidezähne bei einem wirklich blöden Bluffversuch verloren, also einem Spiel um Geld, bei dem er sich anfangs absichtlich blöd angestellt hatte, um später dann, als es um richtige Summen ging, plötzlich groß aufzutrumpfen. Die hohe Kunst bestand darin, nur ein bisschen schlechter als der Gegner anzufangen und nur ein bisschen besser als der Gegner auszumachen. Damals hatte er das noch nicht beherrscht, sondern eine Show abgezogen, aber immerhin: »Der andere hat drei Zähne verloren«, erzählte Neuner gerne jedem, der fragte, und allen anderen eigentlich auch.
Unser Tisch war der einzige, über dem die längliche Lampe brannte, der Rest der großen Billardhalle, des Billard-Palasts Uhland- Ecke Kantstraße, lag weitgehend im Dunkeln. Im Hintergrund lief leise irgendeines der etwa fünftausend Rolling-StonesAlben, ich konnte sie kaum auseinanderhalten, es waren einfach zu viele, und es wurden jährlich mehr, ohne dass ein Ende abzusehen war. Ich winkte in Richtung Tresen, der irgendwo im Dämmerlicht links von uns lag, Sekunden später erschien der kleine blasse Mathematikstudent, der hier die Nachtschicht fuhr, und stellte uns zwei neue Beck’s hin. Neuner stieß zu, die Sieben lief gegen die kurze Bande, kehrte mit leichtem Rechtseffet zurück, glitt an der langen Bande entlang, touchierte die Neun, die daraufhin mit exakt der nötigen Geschwindigkeit gerade noch über die Lochkante fiel. Als hätte sie sich hineingestürzt, nach einem kaum bemerkbaren Augenblick des Zögerns.
»Sieben null«, sagte Neuner. Er grinste. »Der direkte Weg ist manchmal der schlechtere.« Ich zuckte die Schultern und nahm einen Schluck Bier. Es war das fünfte oder sechste, seit wir spielten, die Uhr über dem Tresen war nicht zu erkennen, aber es ging wahrscheinlich auf fünf, halb sechs zu. Morgens.
»Und?«, wiederholte er.
Neuner meinte die gestrige Nacht, die Mucke im Zelt und das
Danach. Vor allem das Danach.
Ich zuckte wieder die Schultern. »Das Übliche. Dortmund oder Bochum oder so. Wir sind in einem Hotel gewesen, so einem Jugendding. Grausig.«
»Und wie war sie ?«
»Ganz okay«, antwortete ich langsam und dachte nach. Wir hatten, wenn mein Kurzzeitgedächtnis nicht ganz falsch lag, ganze vier Sätze gewechselt. Sie war fünfundzwanzig oder so, vielleicht jünger. Hatte ich sie gefragt? Oder sie mich? Keine Ahnung.
»Hat sie dir einen geblasen?«
»Neuner, du bist ein dämliches Arschloch.«
Er grinste.
»Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Ich bin eingeschlafen.«
Jetzt lachte er.
»Eingeschlafen?«
Ich nickte. »Aber ich glaube, sie hat einfach weitergemacht. Ich bin irgendwann aufgewacht und abgedampft. Da hatte ich keine Tüte mehr auf dem Schwengel.«
»Du bist ganz schön fertig«, sagte Neuner und stieß die Zunge durch die Zahnlücke – seine Art, eine gewisse Ehrfurcht zu zeigen.
»Das sagte der Richtige«, erwiderte ich.
Er stellte sein Queue ab und kam einen Schritt näher. »Wenigstens habe ich ab und an so etwas wie eine Beziehung. Ich gehe nicht zu den Nutten oder begnüge mich mit Resteficken . Du könntest viel Bessere haben.«
Ich antwortete nicht. Was auch? Dass ich die Allerbeste gehabt hatte, dass sie mich verarscht hatte und dass ich um keinen Preis der Welt dieses beißende, zehrende, endlose Leere hinterlassende Gefühl jemals
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