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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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wieder verspüren wollte? Davon abgesehen, dass es noch immer nicht ganz verschwunden war. Euphemistisch gesagt. Ich zuckte die Schultern.
»Dumm baut«, erklärte er. Ich nickte.
Ich stellte die Bälle auf – ein stehendes Karo im Holzdreieck, das man mit den Unterarmen zusammenhalten musste, die Neun in der Mitte –, schob die Kugeln möglichst eng zusammen. Wenn man mit dem Anstoß die Neun versenkte, hatte man natürlich auch gewonnen.
Beim Achterball, dem normalen Pool, oder beim filigranen Snooker, das auf gewaltigen Tischen gespielt wurde, setzte man – je nach Qualität des Herausforderers – den Anstoß eher vorsichtig, um dem Gegner keine gute Position zu geben. Beim Neunerball drosch man drauf. So wenige Bälle bedeuteten immer , dass der Gegner eine gute Position hatte. Es kam eher darauf an, schnell zu sein. Ich holte kräftig aus, und mit einem gewaltigen Knall, der durch die Halle echote, krachte die weiße Kugel auf die Spitze des Karos. Die Kugeln versprengten sich, die Neun trudelte in Richtung einer Ecktasche, aber mit viel zu wenig Energie. Von der gegenüberliegenden kurzen Bande kam die Sechs zurück, touchierte kurz die lange Bande, dann die Neun. Klack.
»Sieben eins«, sagte ich grinsend. Neuner verzog das Gesicht.
»Blödes Glücksschwein.«
Und dann: »Du bist echt eingeschlafen? Ich bin noch nie beim Sex eingeschlafen.«
»Ich hatte um die zwanzig Bier und eine halbe Flasche Jack, Mann. Und irgendwann muss ich ja schlafen.«
Die Runde endete zwanzig zu zwei.
Neuner sagte: »Du könntest viel mehr Spiele gewinnen, wenn du nur wolltest. Du bist nämlich ein ziemlich guter Spieler. Aber irgendwie willst du nicht. Du denkst nur an den Stoß, den du gerade machst, und niemals an den nächsten.«
Ich zuckte die Schultern.
»Ganz schön fertig«, wiederholte er.
Im Dämmerlicht eines eher nicht so schönen, sehr kalten Märzmorgens winkte ich auf der Kantstraße nach einem Taxi; es war kaum zu erkennen, ob die schmutziggelben Schilder beleuchtet waren oder nicht. Als eines anhielt, hoppelte Neuners Suzuki LJ80, liebevoll »Elljott« genannt, die Urmutter der Urban SUVs , gerade hinter mir vorbei. Er war nicht zu überhören, denn statt einer Rückbank befanden sich in seinem Auto großvolumige Regalboxen, die liegend eingebaut waren und von einem Vierhundert-Watt-Verstärker gespeist wurden. Neuner hatte nur eine Kassette im Auto, ein Band, auf dem sich in endloser Wiederholung das Schlagzeugsolo aus »A Briefcase« vom Saga-Album »In Transit« befand. Auf dem Weg nach Neukölln schlief ich ein, der Fahrer weckte mich, als wir angekommen waren.
Sieben Stunden später stand ich zitternd bei zwei oder drei Grad plus mit einem Kaffeetopf in der einen und einer Fluppe in der anderen Hand auf dem Balkon, zwischen dem Gerümpel, das ich dort lagerte, weil ich viel zu faul war, das Zeug zum Müll zu tragen. Der Karton von dem großen Fernseher, den ich gekauft hatte, dessen Fernbedienung mir ein Rätsel war und den ich eigentlich nie einschaltete. Ein dunkelbrauner Cordsessel von abgrundtiefer Hässlichkeit, Blumentöpfe, die es bereits auf dem Balkon gegeben hatte, als ich ein halbes Jahr zuvor in diese Zweizimmerwohnung umgezogen war. Ich schob mit dem Fuß ein paar graubraune Filzmatten beiseite, den ehemaligen Bodenbelag des größeren Zimmers, und setzte mich auf die Lehne des Sessels. Es war ein bisschen feucht.
Ich schnippte die Asche von meiner Zigarette über die Brüstung, wartete einen Moment.
»Mein Balkon ist keine Müllkippe, Herr Körner«, krähte erwartungsgemäß eine Stimme von unten. Die alte Stachel, meine Nachbarin.
»Tach auch, Frau Stachel«, rief ich.
»Ich heiße Stagel«, nörgelte sie.
»Und ich heiße Köhrey«, antwortete ich. Sie lebte auf dem Balkon, jedenfalls war sie immer da, wenn ich auf meinen ging. Selbst jetzt, mitten im Winter.
Auf der anderen Straßenseite stand die Mauer. Fünfzig Meter weiter links verlief sie nach einem Knick am Kanal entlang. Gegenüber, hinter dem Minenfeld, standen zwei einzelne, fünfstöckige Mietshäuser, in denen auch tatsächlich Menschen wohnten. Manchmal sah ich jemanden, gelbliches Licht von Wohnzimmerbeleuchtungen, das Flackern der Fernseher. Balkone hatten die Häuser nicht. Irgendwer in diesen Häusern liebte Marius Müller Westernhagen, einige Male hatte ich Songs wie »Dicke« und »Mit 18« gehört, aber ein Gesicht zu diesem Fan gab es nicht. Nachts konnte ich das schummrige, rauchergebissfarbene Licht spärlicher

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