Geisterfahrer
er lächelnd.
»Liebe.« Ich sah ihn an. Frank war ein Jahr älter als ich, wir hatten fast neun Jahre im selben Haushalt miteinander verbracht, aber ich hatte nicht die leiseste Idee davon, was er mit »Liebe« meinte oder selbst darunter verstand. Mit einer Frau hatte ich ihn nie gesehen, nur ab und zu die Grabesstimme eines Mädchens am Telefon gehört, die nach ihm verlangte, aber das hatte nichts bedeutet, weil der nächste Anruf von einem männlichen Grabesstimmler stammte. Genau genommen wusste ich fast nichts über Frank. Er hatte mit der Spielzeugpistole auf meine Stirn gezielt. Das sah ich in diesem Augenblick überdeutlich, während ich sein gepflegtes Äußeres, seine dezent frisierten Haare und seine manikürten Finger mit meinem alten Frank-Bild in Deckung zu bringen versuchte. Er hatte sich verändert, aber hatte er sich wirklich verändert? Mir fiel erstmals auf, dass Frank überhaupt keine Ähnlichkeit mit Jens hatte, er wirkte robuster, hatte völlig andere, herbere Gesichtszüge, einen wesentlich kräftigeren Körperbau und insgesamt ein fast südländisches Äußeres. Vielleicht täuschte mich seine wohldosierte Solariumsbräune aber ein bisschen.
Linda hatte leider frei, also brachte Dieter neue Drinks, während Frank auf meine Antwort wartete. Etwas summte, er griff an seinen Hosenbund und holte einen Pieper hervor, sah kurz auf das Display und erhob sich.
»Bin gleich wieder da«, sagte er, lächelnd und die Schultern entschuldigend anhebend. Er ging zum Telefon im Gang zu den Toiletten.
Zum Glück hatte er die Frage vergessen, als er zurückkam, ich hätte auch keine Antwort gewusst. Liebe. Und die Liebe? Sie ist eine Illusion, das Ergebnis eines Trugbildes, das der andere zu erzeugen versucht und an das man so lange glaubt, bis man Beweise für das Gegenteil findet, beabsichtigt oder nicht. Liebe ist ein Euphemismus, ein beschönigendes Wort dafür, sich eines anderen zu versichern, während man ihn missbraucht, hintergeht, betrügt, verletzt. Man haucht »Ich liebe dich« und denkt dabei an die organisatorischen Schwierigkeiten, die mit der Untreue einhergehen.
Liebe ist: Missbrauch. Aber mit dieser Bildunterschrift gab es den merkwürdigen Comic mit den nackten Kindern nie – auf der Rückseite der »B.Z.«. Liebe ist … wie Sozialismus. Schöne Idee, im Grunde, aber leider nicht alltagstauglich.
Dann erzählte Frank von Jens. Es war gut zu erkennen, dass er seine Emotionen im Griff zu behalten versuchte, aber es gelang ihm nicht. Als er davon sprach, wie der Nachbar die Leiche gefunden hatte, brach seine Stimme, die Hand, die nach dem Chivas griff, zitterte leicht, und er überhörte sogar das erneute Summen seines Piepers. Als er geendet hatte, fokussierte er sekundenlang auf das Tapetennichts zwischen den Ölbildern hinter mir. Ich schwieg, zündete mir eine Zigarette an, betrachtete den ausgeatmeten Rauch und versuchte, mir vorzustellen, was wohl in Jens vorgegangen war. Es gelang mir nicht, natürlich. Es war mir noch nie gelungen.
»Es tut mir leid«, sagte ich, vielleicht zwei Minuten später.
Franks Augen glitzerten, er nickte. »Mir auch.«
Dann sprachen wir über alles Mögliche, sogar über Ute und Mark, darüber, dass Jens Ute fast nicht geheiratet hatte, weil sie zwei Vokale im Namen trug, über den Wedding, über Utes Affäre mit dem Edeka-Mann, über unsere Schule, sogar über meinen ersten Auftritt als DJ, von dem er alle Details kannte, obwohl er nicht dabei gewesen war. Frank fragte nicht nach Melanie, er spürte wohl, dass das Thema für mich tabu war. Dafür aber nach Kuhle.
»Was ist aus deinem Freund geworden, dem Dicken?«
»Kuhle? Ich weiß es nicht. Er hat nach diesem … Zwischenfall die Schule gewechselt. Ich glaube, die Kuhlmanns sind sogar weggezogen. Aber ich weiß es nicht, ehrlich.«
»Überhaupt kein Kontakt mehr?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Du hast dir nicht wenigstens seine Version der Geschichte angehört?« Frank zog die Augenbrauen hoch.
»Er hat nicht angeboten, mir seine Version zu erzählen. Außerdem. Es ist ziemlich drunter und drüber gegangen in dieser Zeit. Ich bin eine Woche später ausgezogen. Kuhle kam nicht mehr zur Schule. Denke ich jedenfalls. Ich bin ja selbst nicht mehr hingegangen.« Der Abend im Big Apple erschien vor meinem geistigen Auge, etwas, das ich wirklich nicht brauchen konnte. »Außerdem, was hätte es schon groß zu erklären gegeben? Er hat versucht, dieses Mädchen zu vergewaltigen.«
»Vielleicht.«
»Sich vom Acker
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