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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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anzufangen, die mein Privatleben gefährden könnte, galt ausnahmslos und erst recht hier, denn ich wollte den Laden nicht verlieren. An einem Nachbartisch hatte eine Skatrunde stattgefunden, aber einer der Mitspieler, ein Arzt, war zu einem Notfall gerufen worden, und als Dieter an unseren Tisch kam, um im Namen der verbliebenen Spieler nach Ersatz zu fragen, hatten wir uns alle gemeldet. Wir waren in Gelächter ausgebrochen, hatten uns von Dieter Karten bringen lassen, und seitdem taten wir es regelmäßig.
    Linda kam aus der Schweiz, sprach ein überzogen betontes Hochdeutsch, studierte Politologie und noch irgendwas völlig Nutzloses, hatte die Figur einer Colaflasche, aber eine fast greifbare erotische Ausstrahlung. Ein gut Teil des zu diesem Zeitpunkt wachsenden Andrangs im Schnipanzel ging auf sie, weil sie die Art von Frau war, die nicht schön genug aussah, um unnahbar zu sein, aber gleichzeitig so unwiderstehlich, dass sie Männerphantasien auslöste, die vor keinem haltmachten, auch nicht vor Bömmel, dem etwa neunzigjährigen Krempelverkäufer, der Abend für Abend hereinschneite und mit seiner donnernden Bassstimme Kondome in Dinosauriergröße, Baseballkappen mit Ventilatoren, Hüpfpenisse und sonstigen Schnickschnack aus dem Bauchladen feilbot. Alle waren in Linda verliebt, zuvorderst Dieter, der keine Gelegenheit ausließ, sie zufällig zu berühren, hauptsächlich im Hüftbereich, aber auch meine Skatpartner ließen sie nur selten aus den Augen. Pepe himmelte sie an, er schrieb ihr sogar Gedichte, die er aus Songtexten extrahierte, mit dem Füllfederhalter auf farbigen Karton übertrug und ihr heimlich, wie er meinte, zusteckte.
    »Das ist doch systematisch für Pepe«, erklärte Osti, der Probleme mit Fremdwörtern hatte, sie aber wacker und ständig benutzte. Linda hatte frische Biere gebracht, Frank überlegte noch, was er spielen sollte, weil er sich offensichtlich überreizt hatte, und Pepe fingerte blind nach einem Zigarillo, das sich bei einer seiner fahrigen Bewegungen unter den Tisch verabschiedet hatte. Sein Kopf lag auf der Tischkante, um Linda ansehen zu können, sein rechter Arm tastete am Fußboden entlang.
    »Symptomatisch, Hartmut«, erklärte Frank, ohne den Blick von seinem Blatt abzuwenden.
»Autsch«, sagte Pepe, der offenbar das Zigarillo gefunden hatte.
»Klugscheißer«, sagte Osti und starrte dabei auf Lindas Hinterteil, die zum Tresen zurückwackelte.
»Ich spiele einen Kreuz«, erklärte Frank.
»Contra«, riefen Osti und ich gleichzeitig, sahen uns dabei kurz an und grinsten. Osti ergänzte: »Wer kommt?«
»Immer der, der so blöd fragt«, sagte Frank.
»Du mit deinen Phasen«, nörgelte Osti.
»Phrasen, Hartmut, Phrasen.«
»Was ist Trumpf?«, fragte Pepe, einen Finger im Mund, weil er sich am Zigarillo verbrannt hatte.
»Die Liebe, Pepe, immer die Liebe«, sagte Frank lächelnd.
»Scheißliebe«, antwortete Harmut und legte das Kreuz-Ass auf den Tisch.
»Bist du bescheuert? Kreuz ist Trumpf «, schimpfte ich.
»Ich dachte, die Liebe«, sagte Osti. Ich schüttelte den Kopf.
Wir spielten meistens bis um zwei oder drei Uhr morgens, das Schnipanzel leerte sich bis auf die üblichen Verdächtigen, die an den Elefanten hockten, Linda beobachteten, wenn sie männlich waren, oder ihre männlichen Sitznachbarn dabei, wie sie Linda beobachteten, falls weiblich. Wenn Dieter damit anfing, die Stühle im vorderen Bereich hochzustellen, setzte sich Linda zu uns, meistens neben Pepe, und kiebitzte ein bisschen. Pepe spielte dann richtig schlecht, aber er spielte sowieso nie wirklich gut, und wir hatten alle einen im Tee um diese Uhrzeit. Ich genoss das. Das schöne, überschaubare Spiel, bei dem es klare Regeln gab und eine Richtung, die vorgegeben war, und am Ende wurde immer abgerechnet. Ich spielte nicht, um zu gewinnen; wir zockten zwar um einen Groschen je hundert Punkte, was nach unseren Regeln – mit Böcken und Schiebern – auch mal fünfzig, sechzig Märker in der Bilanz ergab, aber mir war das egal. Einfach in dieser Runde zu sitzen, blöd zu quatschen und bei der Begutachtung eines Blattes abschätzen zu können, wie es ausgehen würde. Das war herrlich. Ich fühlte mich wohl und sicher. Manchmal wünschte ich mir an diesen Abenden, das Leben wäre immer so.
Linda kassierte, Frank verabschiedete sich rasch, Pepe und Osti teilten sich ein Taxi, das für Berliner Verhältnisse überraschend schnell kam, aber ich wusste noch nicht so recht, wie der Abend enden sollte.

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