Geisterfahrer
vielleicht genau deshalb lauthals mitsang, hatte ich ein Gefühl, das demjenigen vermutlich sehr nahekam, das Rockmusiker haben, wenn jede ihrer Gesten tausendfach nachgeahmt wird.
Das Licht am Pult bestand aus einer Zwölf-Volt-Funzel, die gerade ausreichte, die Regler zu beleuchten, und einer Art Nachttischlampe, die am Tisch festgeklemmt war und deren Schlangenhals ich ständig drehen musste, wenn ich im jeweils anderen Plattenkoffer nach Stücken suchte. Vom Tanzboden aus zu sehen war ich nur, wenn einer der Effekte seinen rauchlichtigen Kegel auf mich herabstieß, je nach Titel und Goodwill des Lichtjockeys auf der anderen Seite des großen Rundes, etwa fünfundzwanzig Meter im Durchmesser. In guten Nächten tanzten tausendfünfhundert Leute im Zelt, in schlechten waren es selten weniger als tausend.
Ob die Musikgestaltung ankam, konnte man leicht an zwei Indikatoren ablesen. Daran, wie oft Leute hochkamen und sich Titel wünschten – je weniger, desto besser war das Programm; wer mit Tanzen ausgelastet ist, wünscht sich keine andere Mucke. Und des Weiteren daran, wenn man bei einem Mitsingtitel den Regler herunterzog und dem Chor der Masse lauschte. An einem denkwürdigen Abend, an dem der kondensierte Schweiß, der vom Zeltdach in meine Plattenkoffer getropft war, die Hälfte meiner Plattencover beinahe ruinierte, hatten sie fast zwei Minuten lang ein Stück mitgesungen und dazu getanzt, obwohl nicht der leiseste Klang aus den Boxen gekommen war.
Die wöchentliche Party stand unter einem Motto, das ich immer wieder vergaß, aber im Prinzip ging es ums Abschleppen. Junge Menschen fast jeden Alters ab achtzehn verausgabten sich, um potentielle Geschlechtsverkehrspartner zu akquirieren. Insbesondere die Männer ließen dabei immer wieder erkennen, dass sie damit überfordert waren, das adäquate Outfit zu wählen. Viele trugen einfach Wohlfühlklamotten, meistens Jeans und ein labbriges TShirt mit möglichst lustigem Aufdruck oder dem Namen der Lieblingsband, gerne auch so gut wie ausgewaschen, aber es gab viele Exemplare, die in Trainingshosen kamen, Sweatshirts, die von unzureichenden Wäschepflegekenntnissen Zeugnis ablegten, man konnte viele Turnschuhe zählen und durchaus einige Sandalen. Nur wenige männliche Tänzer gaben sich wirklich Mühe, erschienen in Sakkos, deren Ärmel noch immer, 1989, hochgekrempelt wurden, und mit Schlipsen; es gab viele Polo-Shirts und einiges an Slippern. Vereinzelt waren Anzugträger zu sehen, aber die stellten in jeder Hinsicht eine Ausnahme dar. Diese Herren standen vorzugsweise an der langen Bar, lavierten mit Geldclips und zogen gold- und platinfarbene Kreditkarten, nur um sie zu zeigen; akzeptiert wurden sie im Zelt sowieso nicht.
Das Weibsvolk verarbeitete die Nachwehen des vergehenden Jahrzehnts, aber unzureichend. Hochtoupierte oder anstrengend dauergewellte Haare waren zwar mittlerweile in der Minderheit, und auch die Schminkattacken fielen offenbar weniger entlarvend aus, aber unglücklich Körper betonende Hosen und Pinktöne beherrschten noch immer das Bild. Vereinzelt war dezenter Schick zu sehen, einfach die passende, zurückhaltende Kleidung, nette Frisuren und anhaltendes Lächeln unter wenig Farbe. Diese Frauen wurden am meisten umschwärmt. Um die Frauen, die mit sackartigen Umhängehandtaschen tanzten, die ihnen gegen die Hüften schlugen, machten alle Männer einen Bogen. Es war leicht zu sehen, was die Kerle wollten, nämlich problemlose, hübsche Frauen – die, die extrem gut aussahen, wurden ebenso extrem gemieden –, aber worauf die Frauen aus waren, das begriff ich noch immer nicht. An jedem Abend pickte ich mir zwei oder drei heraus, die ich länger beobachtete, aber ich hätte jede Wette verloren, mit welchem Typ sie nach Hause gehen würden: Die feingliedrige, lasziv tanzende Lolita mit Schmollmund, die ständig einen Pulk Verehrer abwehren musste, ging mit dem Vokuhila-Fußballer, dessen IQ, von weitem erkennbar, jenseits der Schmerzgrenze lag, und die Celluliteburg mit dem strohigen Haar verschwand grinsend, Hand in Hand, mit dem gutaussehenden, schwarzhaarigen Zweimetermann, der mir Minuten vorher erklärt hatte, dass in Bezug auf Depeche Mode das letzte Wort längst nicht gesprochen war und dass die Kunst- und damit Musikrezeption allzu sehr von soziokulturellen Parametern bestimmt sei.
Genau genommen machen Plattenaufleger überhaupt nichts. Sie greifen nach einer Scheibe, legen sie auf den Teller, cuen und starten sie dann. Technisch
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