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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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er das Mikrofon voll, und dann kam die Belegschaft. Mit ihren Anhängseln – Ehefrauen, Freundinnen und Verlobten. Bis auf die drei Sekretärinnen und die Buchhalterin, eine nicht unansehnliche Mittdreißigerin, die sich in einem gewagten kurzen Rock und Netzstrümpfen präsentierte, gab es in diesem Betrieb nur männliche Mitarbeiter. Sie setzten sich an die Tische in der spärlich geschmückten Kantine und begannen das Kampfschlucken.
    Ich bemühte mich, wenigstens eine Weile durchzuhalten, aber bei der dritten Rede, stellvertretender Personalchef oder so, strich ich die Segel. Ich holte mir fünf Bier und einen sechsstöckigen Jack Daniel’s, stellte mich hinter den Mixer, trank und atmete Atmosphäre.
    Gegen Mitternacht war ich angegangen, die Reden hatten zwar geendet, aber dafür fand ein Quiz statt. Die Belegschaft hatte gesammelt, für eine fünftägige Mallorcareise, und der Chef musste extrem originelle Scherzfragen beantworten, um sie zu gewinnen. Ich schlief fast ein, starrte an die Decke oder auf die Beine der Buchhalterin, bis mir jemand auf die Schulter tippte.
    »Los geht’s«, lallte der Chef. Er griff nach dem Mikrofon und kündigte – kaum verstehbar – »DJ Frankfurt«, den Star aus Berlin, an. Scheißegal. Auf meinen halbherzig ausgewählten Künstlernamen »DJ Frankenfurter« gab ich ohnehin nichts, außerdem sind Plattenaufleger nicht wirklich DJs.
    Und dann ging es los.
Nach einem gepflegten Mainstreamintro versuchte ich es zaghaft mit tanzbaren Songs, die eigentlich jeder kennen musste, aber es tat sich nichts, trotz meiner verbalen Animation, für die ich das eklig-säuerlich stinkende, vollgespeichelte Mikrofon benutzen musste. Die Buchhalterin kam nach einer halben Stunde zu mir, lächelte mich an und erklärte mir, dass es auf diese Art nicht funktionieren würde. Aber sie hätte da … Sekunde mal … Fünf Minuten später war ein verstaubtes Kassettendeck an die Anlage angeschlossen, und weitere zwei Minuten später tanzte die Meute zu Roland Kaiser. Was heißt tanzte. Sie flippte aus. Ich tat nichts mehr, drehte nur Julianes Kassetten um. Gegen drei vögelten wir kurz und schnell in einem Lagerraum. Juliane wollte unbedingt, dass ich ihre Strümpfe zerriss, was ich auch tat, aber ohne den Zweck zu verstehen. Kurz vor fünf, da hatte ich einige Kassetten zum dritten Mal eingelegt, musste für zwei Mitarbeiter der Notarztwagen gerufen werden, um halb sechs waren die Klos komplett vollgekotzt, um sechs strippte der Chef, zehn Minuten später baute ich ab, während eine abholende Ehefrau ihren besoffenen, beinahe wehrlosen Mann zu verdreschen versuchte, weil sein Hemd Lippenstiftspuren aufwies. Anschließend wartete ich eine halbe Stunde lang auf ein Taxi. Während ich vor der Halle stand und an einer geschnorrten Lord Extra saugte, kam der Chef an mir vorbeigetorkelt, das klimpernde Autoschlüsselbund in der rechten Hand, blieb stehen, drehte sich um, näherte sich mir wieder, umarmte mich, küsste mich aufs Ohr und nuschelte kaum verstehbar: »Prima Abend. Das machen wir mal wieder.« Danach stieg er in seinen 5er-BMW und fuhr mit quietschenden Reifen schlingernd vom Hof.
Gegen halb acht schlief ich ein, zwanzig Minuten später weckten mich meine Gastgeber zum Frühstück. Ich schimpfte sie fleischfressende Nazischweine, schlief bis um eins, legte die beiden Zwannis, die die Übernachtung inclusive Verpflegung kostete, auf den Wohnzimmertisch – meine Vermieter waren nicht zu hören oder zu sehen –, verstaute meinen Krempel in Pepes R4 und fuhr zum nächsten Gig.
Mein Ziel hieß Nieder-Sengricht, laut Plan etwa fünfunddreißig Kilometer von Uelzen entfernt, achthundert Einwohner, quasi nicht zu finden. Die Orte, die von den Landstraßen durchschnitten wurden, glichen sich wie ein Huhn dem anderen, ich kämpfte mit dem unhandlichen Autoatlas, knatterte mehrfach Strecken entlang, die mir bekannt vorkamen, übersah rasch aufeinanderfolgende Ortsschilder, aber an irgendeinem nichtssagenden, durch kahle, flache Agrarlandschaft führenden Stück Bundesstraße entdeckte ich plötzlich Plakate an den Bäumen: Party im Nachtschicht, Stargast DJ Frankenfurter aus Berlin. Weiß auf schwarz. Ich folgte den Bekanntmachungen, landete schließlich in VorderSengricht.
Zweimal durchfuhr ich den Ort, umrundete ihn, aber NiederSengricht gab es nicht. »Da sind Sie hier völlig falsch«, erklärte mir ein Mann in Trenchcoat und Wildlederhosen, der eine Art Dackel spazieren führte, die Leine in der

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