Geisterfahrer
einen und eine Bierdose in der anderen Hand. »Nieder-Sengricht ist noch ein Stück in Richtung Uelzen, hinter der Baustoffhandlung links.« Er fuchtelte mit der rechten Hand in mehrere Himmelsrichtungen, ich suchte mir eine aus und fand tatsächlich eine Baustoffhandlung, umgeben von einer gewaltigen Lagerfläche, auf der sich Holz, Steine und riesige Kiesberge befanden. Dahinter bog ich links in einen Weg ein, der von einem Parkinson-Kranken geteert worden sein musste, und nach drei Kilometern tauchte tatsächlich das Ortsschild auf. Das Nachtschicht war nicht zu übersehen, gleich am Ortseingang, ein holzverkleideter Flachbau ohne Fenster und mit Alutür, darüber die entsprechende Leuchtreklame: »Herrenhäuser« vom Fass. Ich hielt trotzdem an und klopfte kräftig gegen die Alutür. Als ich den zweiten Zug von meiner Zigarette genommen hatte, öffnete ein kastenförmiger Mensch, der mich an Osti erinnerte; er war allerdings eine Art Hundertfünfzig-Prozent-Vergrößerung. Seine Hände hatten die Fläche des R4-Ersatzrades, mächtiger noch als die Hände des Edeka-Geschäftsführers, sein Mund war enorm groß und hatte dicke, fleischige Lippen. Dahinter waren schlecht gepflegte Zähne nicht zu übersehen. Zwischen goldgelben Fingern hielt er eine filterlose Zigarette, Camel ohne. Seine kurzen Haare standen in alle Richtungen; obwohl es auf drei Uhr nachmittags zuging, schien er gerade erst aufgestanden zu sein.
»Was’n los?«
»Hi. Ich bin der DJ.«
»Oh, klasse. Komm doch rein. Willste ’n Bier?«
Warum nicht? Ich nickte, Camel ohne grinste.
Es stank, wie es in allen ungelüfteten Kneipen am Tag danach stinkt. Kalter Rauch, fauliger Biergeruch, Reste von menschlichen Ausdünstungen, verdreckter Bodenbelag, den kein Mensch auf diesem Planeten je wieder sauber bekommen würde. Dazu fahles Licht und hochgestellte Stühle. Camel ohne klapperte hinter dem Tresen herum, stellte schließlich zwei Flaschen Beck’s darauf, öffnete sie, ohne dass seine Handbewegungen nachvollziehbar waren, zündete sich die nächste Fluppe an.
»Willkommen im Nachtschicht«, sagte er, stieß mit mir an und leerte seine Flasche in einem Zug, an der Zigarette vorbei. Ich sagte nichts, nahm einen Schluck und sah mich um.
»Bin der Jörg«, sagte er schließlich. Es klang wie »Goerch«; irgendwie schaffte er es, das »G« nach vorne zu ziehen und dabei trotzdem den echten Namen durchklingen zu lassen.
»Tim.«
Goerch ging zu einem Schaltkasten, drückte ein paar Knöpfe.
»Das’s mein Laden«, sagte er stolz, als die Deckenbeleuchtung aufflammte. Langer Tresen, ein paar Kneipentische, eine kleine Tanzfläche, die Wände holzgetäfelt, eine Discokugel, ein paar Scheinwerfer, ein Strobo. Das Pult befand sich auf der gegenüberliegenden Seite, in einem ebenfalls holzgetäfelten Kabuff mit unverglastem Fenster zur Tanzfläche hin. An Ketten hingen vier Electro-Voice-Boxen, immerhin. Trotzdem war es hinterste Provinz, pur. Ich beschloss, Pepe am nächsten Tag anzurufen, um den Rest der »Tour« abzusagen. Werner hin oder her. Früher oder später müsste ich mich mit diesem Problem ohnehin auseinandersetzen.
Goerch zeigte mir mein Zimmer direkt hinter der Kneipe, ein fensterloser Lagerraum, der mit leeren Bierkisten vollgestellt war; es gab eine Art Pritsche, auf der ein Schlafsack lag, und ein mikroskopisch kleines Waschbecken.
»Das ist nicht dein Ernst«, sagte ich.
»Ist ja nur für zwei Nächte.« Ich war für Freitag und Samstag gebucht. Er grinste. »Hier wird gut abgefeiert. Es wird dir egal sein, wo du schläfst.«
Ich dachte an die Werkzeugfabrik in Hitzacker und nickte unfroh. Pepe anrufen, Pepe anrufen. Ich versuchte, mich mit diesem Gedanken zu trösten. Einfach abhauen wäre auch eine Alternative gewesen, aber ich fühlte mich ein bisschen matt, war hungrig und wusste, dass ich nicht die Energie aufbringen würde, mich jetzt wieder ins Auto zu setzen.
»Futtern wir erst mal was«, sagte Goerch.
Er war ein erstklassiger Koch. In seiner ebenfalls fitzelkleinen Wohnung, auch hinter dem Nachtschicht, briet er Filetsteaks, garte Ofenkartoffeln, bereitete Sourcreme zu, bastelte einen wirklich köstlichen Salat. Eine Stunde später war ich satt und redlich müde, ging in meine Kemenate und schlief auf der knarrenden, viel zu kurzen Pritsche sofort ein. Als ich erwachte, war es stockdunkel, und wie zuvor gelegentlich auf dieser »Tour« wusste ich erst nicht, wo ich mich befand, warum und sowieso. Der Griff zur Bettkante, die aus
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