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Geisterfahrer

Geisterfahrer

Titel: Geisterfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Liehr
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Sekunden auf den Tacho, um auf keinen Fall schneller als hundert zu fahren, was mit der Kiste wahrscheinlich sowieso kaum möglich war. Ich blickte ansonsten stur geradeaus, dachte an nichts und weniger als das, und knapp zwei Stunden später stieg ich am Rasthof Helmstedt aus, um einen Kaffee zu trinken und ein mit welliger Wurst belegtes Brötchen zu essen. Ich sah in Richtung Osten, in mir war noch das Ta-Tack-Ta-Tack der Transitstrecke, und ich fühlte nichts. Keine Ahnung, was auf mich zukam, keine Ahnung, was ich hinter mir gelassen hatte. Ich lauschte in mich, fand aber keine Antwort auf die Frage, warum ich tat, was ich da gerade tat. Aber das war nichts Neues. Schon seit Jahren nicht mehr.
    Der Nummer-eins-Hit in Deutschland an diesem Tag war »Looking For Freedom« von David Hasselhoff.

9. Provinz
    Nach dem zehnten Gig wurde ich langsam sauer auf Pepe. Der erste, in einem Club in Uelzen, hatte noch halbwegs Spaß gemacht, aber danach wurde es von Auftritt zu Auftritt schlimmer. Vorläufiger Höhepunkt war eine Betriebsfeier, in einem Ort namens Hitzacker im Zonenrandgebiet, der in allen Bedeutungen des Wortes seinem Namen Ehre machte. Mitten im Nichts, auf einem Stück Brachland zwischen zwei struppigen Waldstücken, stand eine kleine Fabrik für Werkzeugteile oder so was, in deren Kantine ich zum fünfzigjährigen Jubiläum auflegen durfte. Ein rotgesichtiger, kahlköpfiger Typ Ende fünfzig begrüßte mich, führte mich in ein trübes, nur durch ein Aquarium beleuchtetes Büro, schenkte mir lauwarmen Johnny Walker Black Label ein, was er offenbar als weltmännisch empfand, und dann hielt er mir einen Vortrag über seinen Laden. Gegründet vom Vater, die schwere Zeit nach dem Krieg, sowieso alles Scheiße hier, derart dicht am Kommunismus, aber große Aufgabe, natürlich, allerdings die Leute faul, trotzdem geldgeil; so ging es eine geschlagene halbe Stunde lang, fehlte nur noch, dass er über seine Impotenz und die Dummheit der eigenen Kinder sprach. Dann erklärte er mir den Ablauf. Reden, dann Reden, außerdem Reden und außerdem noch mehr Reden, anschließend würde es einen Auftritt geben, seine Mitarbeiter hätten sich da was ausgedacht, Genaues wisse er nicht, hähä, oder dürfe er nicht wissen, höhö, und so gegen elf, vielleicht aber auch erst um eins könne ich dann loslegen. Aber ich müsste natürlich vorher da sein, Mikrofone und Mischpulte, damit kannte sich keiner aus, aber »unsere Produkte, da können Sie mit dem Panzer drüberfahren«. In welche Richtung, das stand fest. Ich ließ den Höflichkeitsschluck Scotch im Mund hin und her wandern, bis es nicht mehr ging, dann spuckte ich ihn in einem unbeobachteten Moment ins Glas zurück und kippte das Ganze in seinen Gummibaum. Scotchtrinken, das lag dicht an der Eigenurintherapie.
    Meine Unterkunft war privat , wie Pepe das euphemistisch genannt hatte, und mir gruselte bereits auf dem Weg dorthin, weil die älteren Herrschaften, meine Gastgeber, meistens schon irgendwelche Abscheulichkeiten gekocht hatten, Innereien mit matschigen Salzkartoffeln und derlei. Außerdem versuchten sie immer wieder Familienanschluss herzustellen, indem sie ihre Lebensgeschichten offenbarten, mir ihre Köter vorführten, die einen ansabberten oder sich am Unterschenkel abgeilten. Dazu gab es dann Schnäpse, literweise. Diese Generation, deren Aussterben ich nicht abwarten konnte, definierte sich darüber, wie viele Kurze man innerhalb einer halben Stunde schlucken konnte. Nach meiner aktuellen Statistik waren es durchschnittlich fünfzehn, einen trank ich immer mit, um niemanden zu brüskieren, und redete mich bei den folgenden darauf raus, ja noch arbeiten zu müssen. Das aber hielt die Hausherren niemals davon ab, die restlichen vierzehn alleine zu saufen. Mama stand währenddessen in der Küche und passte auf, dass der Pansen oder die Nieren nicht zäh wurden. Meistens überraschte ich die Leute damit, Vegetarier zu sein – ein Begriff, den nicht jeder verstand (»Aber Wurst essen Sie schon, gell?«) –, und drückte die breiigen Kartoffeln in die Soße, jedes Stückchen Rindereingeweide meidend wie der DJ deutsche Schlager.
    Wobei.
    Die Soundso Werkzeuge GmbH & Co. KG beschäftigte augenscheinlich nur Dumpfnasen und Alkoholiker. Beim Aufbauen brachte der Chef abermals Scotch an, und er hatte bereits einen in der Lampe, duzte mich und empfahl mir, es ihm gleichzutun. Fehlte nur noch, dass er mich zum Verbrüderungskuss aufforderte. Beim Soundcheck sabberte

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