Geisterfahrer
wir eine Weile durch die Gegend; die Ortschaften glichen sich wie die Kiesberge der Baustoffhandlung, das meiste kam mir bekannt vor, war es aber vermutlich nicht, Gisela nannte ein paar Namen, sagte Dinge wie: »Hier wohnt meine Tante« oder »Hier hatte ich mal eine Freundin.«
Ich langweilte mich, und ich verstand den Sinn der Aktion nicht. Aber es lag irgendwas in der Luft; ich bekam mehr und mehr das Gefühl, dass Gisela mit dieser Tour durchaus ein bestimmtes Ziel im Auge hatte.
Zwischen zwei belanglosen Waldstücken fuhr ich an den Straßenrand, gute anderthalb Stunden nach dem geblümten Kaffee in der Küche von Wolfgang und Trudchen.
»Ich brauche jetzt eine«, sagte ich, nahm eine Zigarette, stieg aus dem R4 und zündete sie mir an. Gisela blieb im Wagen.
Ich ging ein paar Schritte. Plötzlich stand sie neben mir, nahm meine linke Hand.
»Ich muss dir etwas sagen.«
Ich nickte auffordernd, blies den Rauch in die Luft, sah in den Himmel. Der leichte Wind zerfaserte die Qualmwolke sofort.
»Etwas Wichtiges.«
Jetzt sah ich sie an, ihr Gesichtsausdruck war scheu und ernst. Ein Gefühl überkam mich, das ich nicht kannte, eine Art angstvoller Erwartung, verbunden mit einer Ahnung von Unausweichlichkeit, die Zeit schien sich zu verlangsamen; ein Teil von mir wusste, vermutete wenigstens, was jetzt gleich geschehen würde. Giselas Gesicht verwischte, als hätte der Kameramann einen starken Weichzeichner vor die Linse geschoben; dann veränderte es sich, wurde für einen kurzen, schmerzhaften Moment zu dem von Melanie. Der Soundtrack dazu bestand aus drei Wörtern, die Gisela erst leise aussprach, dann lauter wiederholte, bis ich endlich begriff, was sie da sagte bei der letzten Wiederholung unter Tränen.
»Ich bin schwanger.«
Die Botschaft war für mich bestimmt, für mich und nur für mich. Wir sind schwanger. Sie kam erst nicht an, weil ich in diesem Augenblick aus irgendwelchen Gründen an meinen Pflegebruder Frank denken musste, daran, wie er mir mit Hilfe einer toten Fliege verdeutlicht hatte, was mit meinen leiblichen Eltern geschehen war. Meine Gedanken waren bei ihnen, erstmals seit vielen Jahren, und bei ihrer Geisterfahrt auf der A2, die mich zur Waise gemacht hatte.
Nach einer scheinbar endlosen Weile nahm ich die Zigarette aus dem Mund, warf sie vor mich auf den Sandstreifen neben der Straße, griff nach Giselas Hand und sagte: »Verstehe.« Mehr brachte ich nicht heraus, denn erst jetzt begriff ich, was sie gesagt hatte.
Am Abend, nach einer schweigsamen Rückfahrt, saßen wir bei Ernst in einer dunklen Ecke, ich trank Bier und Gisela Soda, und wir redeten, sie etwas mehr, ich weniger. Gelegentlich erwischte ich mich dabei, ihr nicht zuzuhören, sondern sehnsuchtsvoll zur Skatrunde zu schauen. Sie legte in einem dieser Momente ihre Hand auf meinen Unterarm und sagte: »Ich verstehe, dass dich das nachdenklich macht. Aber es kommt auch für mich überraschend.«
Später standen wir vor dem Nachtschicht. Gisela wollte nicht, dass ich bei ihr übernachtete, und ich wollte alleine sein, sagte ich jedenfalls, aber ganz genau wusste ich nicht, was ich wollte. Vielleicht nachdenken.
Goerch hatte mich kommen hören, kam im Bademantel angeschlurft, zog mich zur Bar, wir setzten uns in das muffige Halbdunkel und tranken Beck’s. Er schien zu ahnen, vielleicht sogar zu wissen, was geschehen war, und während ich pausenlos an Giselas letzte Worte dachte – »Ich werde dieses Kind auf jeden Fall austragen« –, sah er mich nur an, mit einem Gesichtsausdruck, der mitfühlend und ironisch zugleich schien. Irgendwann nach dem achten oder zehnten Bier stand ich auf, ging zum DJ-Kabuff, schaltete die Anlage ein, griff in meine Plattenkiste, die dort immer noch stand, und legte »Come Back And Stay« auf. Ich blieb in der Kabine stehen, lauschte dem Song, unserem Lied, und ließ es einfach laufen. Als der Titel zu Ende war, wischte ich mir das Gesicht mit dem Ärmel trocken, nahm einen letzten Schluck Bier, Goerch hatte sich längst verpisst, ging in die Präsidentensuite und lag wach, dachte an mich selbst, wie ich ohne die eigenen Eltern aufgewachsen war, bei Fremden, ohne dass sich am Fremdsein je wirklich etwas geändert hatte. Ich dachte an einen kleinen Tim, der von Wolfgang und Trudchen großgezogen wird. Und von RobinsonNorbert.
Das tat ich, bis mein Wecker sieben Uhr morgens anzeigte. Dann duschte ich, putzte meine Zähne, bis die Zahnpasta nicht mehr nach abgestandenem Bier schmeckte, zog halbwegs
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