Geisterfahrer
Sache wahrscheinlich Spaß machen.«
»So einen kann ich brauchen«, sage ich. Wir schütteln Hände, ich mache Zeichen, seine komplette Rechnung zu übernehmen, und schreibe meine Mobilfunknummer auf, weil ich meine Zimmernummer noch nicht kenne.
Meine Unterkunft ist ein recht angenehmes, zwanzig Quadratmeter großes Zimmer mit Pay-TV, Vergrößerungsspiegel im Bad und Minibar. Immerhin funktioniert hier die Klimaanlage. Es ist totenstill, der Verkehrslärm wird gut abgeschirmt. Eine Weile stehe ich am Fenster und blicke auf die multikulturell bevölkerte Hermannstraße, dann lege ich mich in voller Montur aufs Bett. Sekunden später bin ich eingeschlafen.
Als ich erwache, ist es immer noch hell, der Radiowecker zeigt neunzehn Uhr siebenunddreißig an. Siebenunddreißig. Ich dusche, bestelle beim Zimmerservice etwas zu essen – »Kann einen Moment dauern«, man hört den Menschen vom Restaurant förmlich schwitzen – und schließe meinen Laptop an die Telefonanlage an. Für einen Moment überkommt mich ein Anflug von Mitleid für Wolfgang, der jetzt mit seiner IT-Infrastruktur völlig allein dasitzt, über niemanden verfügt, der auch nur die Idee einer Ahnung davon hat, wie all das funktioniert. Aber diese Gefühlsverirrung geht schnell vorüber. In meiner Mailbox ist nichts Neues von meinem anonymen Freund, dafür aber eine Nachricht meines Schwiegervaters.
»Wir sollten reden. Alles lässt sich klären. Nichts überstürzen. Wolfgang.«
Ich antworte: »Niemand überstürzt etwas, und wir werden ganz sicher noch reden. Frag Deine Tochter mal, wer der Vater Deines Enkels ist. Du wirst staunen. Tim.«
Bevor ich die Nachricht losschicke, ändere ich noch die Signatur: »Tim Köhrey« steht dort jetzt.
Der Anwaltstrubel ist vorbei, als ich in die menschenleere Bar komme, in der Lobby steht die Luft, aber ab und zu streift mich ein Hauch von Frische, die Klimaanlage kämpft gegen abgestandenen Advokatenschweiß und Wüstenhitze. Ich trinke noch einen Kaffee.
Neuner konnte ich im Web nicht finden, aber ich erinnere mich auch nicht an seinen Nachnamen, mir fällt nicht einmal sein echter Vorname ein. Irgendwas mit B – Bernd, Boris, weiß der Geier. Auf den Turnierlisten der offenen Billardturniere, die ich durchsuche, ist jedenfalls kein Hinweis zu finden. Osti hieß Hartmut, aber ansonsten komme ich da auch nicht weiter. Aber will ich die beiden auch wirklich wiedersehen?
Frank betreibt eine Unternehmensberatung mit Sitz in Köpenick, doch ich drücke die Telefonverbindung weg, als eine Mailbox anspringt. Die beiden Kuhlmann-Michaels habe ich auf mein Smartphone übertragen. Eine Melanie Schmöling gibt es in ganz Deutschland nicht, in Berlin keinen einzigen Eintrag zu diesem Familiennamen. Ich trinke aus, nenne dem Barmann meine Zimmernummer, unterschreibe einen Beleg und gehe nach draußen.
Im Taxi stinkt es nach Schweiß und Knoblauchsoße, der verstrahlte Fahrer fragt mich fünf Mal, wie die Kneipe heißt, in die ich will, aber er versteht es selbst dann nicht, als ich den Namen buchstabiere, also reicht er mir das Mikrofon für seinen Sprechfunk nach hinten. Shit, ich habe sogar vergessen, in welcher Straße das Schnipanzel ist. Aber die Frau vom Taxifunk weiß es. Zehn Minuten später halten wir davor.
Dieter hat keine Haare mehr, und er wirkt auf mich viel kleiner, als ich ihn in Erinnerung habe, ansonsten hat sich hier nichts geändert, alles ist nur ein bisschen angestaubter. Es würde mich nicht überraschen, wenn Neuner, Osti und Frank beim Skat säßen und Linda hinterherglotzten. Vor der Tür, an zwei kleinen Tischen, sitzen Touristen, der Gastraum ist leer. Es riecht nach Linsensuppe. Dieter fragt mich nach meinen Wünschen, er erkennt mich offenbar nicht, aber er schaut mich auch kaum an. Ich bekomme mein Bier, der Wirt wuselt hinter dem Tresen herum, rührt in der Gulaschkanone. Ich nehme mein Glas, eine Tageszeitung aus dem Halter und setze mich an einen Tisch in der Ecke.
Ich lese langsam und gewissenhaft alle regionalen Tageszeitungen, die Dieter im Angebot hat. Nach dem dritten Bier, der zwölften Zigarette und der fünften Zeitung, »Berliner Kurier«, die gab es früher nicht, ist es halb zehn. Der Laden hat sich ein wenig gefüllt, draußen ist es dunkel. Die Gesichter der knapp zwanzig Gäste kommen mir noch immer nicht bekannt vor. Bis auf eines – an einem Elefanten sitzt Frank und arbeitet an einem Laptop.
Er ist älter geworden, natürlich ist er älter geworden, sein Haar ist grau
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