Geisterfahrer
Berlin nicht gerade bergig. An vielen Autos wehen Deutschlandfahnen, obwohl die Fußball-WM doch schon ein paar Tage her ist und Deutschland, wenn ich das richtig mitbekommen habe, nicht gewonnen hat.
Wir biegen auf die Potsdamer Straße ab, Richtung Schöneberg. Langsam erkenne ich die Gegend wieder, obwohl mir alles viel sauberer vorkommt, als ich das in Erinnerung habe. Es wimmelt von Dönerbuden, leerstehenden Ladenräumen, Sexshops und thailändischen Restaurants. Nur die Currywurstbuden sind verschwunden – früher gab es davon Hunderte. Ein Laden, der über zwei Stockwerke geht, heißt »LSD«, ich kann so schnell nicht erkennen, was dort verkauft wird, aber ich bin mir sicher, der Handel mit harten Drogen ist auch hier weiterhin illegal. Ill-egal.
Wir biegen nach Süden ab, unterqueren die graffitibeschmierten, rostigen Yorck-Brücken. Sogar die Yorck-Kinos gibt es noch. Aber es wirkt unecht auf mich. Wie eine Kulisse. Sogar der Karstadt am Hermannplatz wurde aufgehübscht. Zwei Minuten später halten wir vor einem modernen Komplex, mitten in Neukölln. Auf dem Bürgersteig schleichen Figuren umher, die die Ahnung eines Zuhausegefühls aufkommen lassen. Ich gebe fünf Euro Trinkgeld, aber die Fahrerin hilft trotzdem nicht beim Ausladen.
Die Lobby ist von beschlipsten Anzugträgern bevölkert, ich muss mich zum Empfang durchkämpfen.
»Was ist hier denn los?«, frage ich eine schwitzende, kleine, recht junge Dame, die sich in ihrer Uniform sichtlich unwohl fühlt. Auch hier drin ist es heiß wie in einem Ofen, die Anzugträger haben wahrscheinlich Katheter, um ihre Flüssigkeiten zu kanalisieren. Möglicherweise ist die Klimaanlage kaputt, vielleicht ist sie aber nur nicht für achtunddreißig Grad über Null gedacht.
»Ein Kongress. Anwälte«, sagt sie, ohne aufzublicken. Sie klappert auf einer Computertastatur herum.
»Haben Sie noch ein Einzelzimmer für mich?«
Jetzt schaut sie mich an. Sie ist schätzungsweise Anfang zwanzig, und ich werde in einem Monat achtunddreißig sein. Trotzdem geschieht etwas, das mir zuletzt vor siebzehn Jahren passiert ist. Und in diesem Moment fühle ich mich zu Hause.
Sie lächelt, einen kleinen Tick mehr, als nötig wäre. »Ich schaue mal. Wir sind zwar so gut wie ausgebucht. Aber Sie kriegen wir schon noch unter.«
Sie blickt zurück auf ihren Monitor. »Wäre ja schade«, nuschelt sie, dabei wird sie rot. Ich muss grinsen.
Jemand ist gerade abgereist, aber das Zimmer muss noch gerichtet werden. Ein Hotelangestellter trägt mein Gepäck hinter den Empfangstresen, ich gehe zur Bar, an der sich Herden von rotgesichtigen Anwälten Zigarettenrauch in die Gesichter blasen. Ich dränge mich auf den einzigen freien Hocker, bestelle bei einem ebenfalls schwitzenden Barmann Kaffee und Mineralwasser und zünde mir eine Fluppe an. Der Anwalt neben mir blättert in rotgebundenen Akten, vor ihm steht ein Whiskey. Es ist kurz nach drei am Nachmittag, kaum zu glauben, dass ich vor fünf Stunden noch in Nieder-Sengricht bei Gisela war.
Der Typ blickt auf und sieht mich kurz an. Ich nicke lächelnd, und dann frage ich aus einem Impuls heraus: »Sie sind Anwalt?«
Er trinkt seinen Whiskey aus und deutet ein Nicken an.
»Darf ich Ihnen eine Frage stellen? Ich gebe Ihnen auch einen aus.«
Er sieht auf die Uhr.
»Okay. Wir haben fünf Minuten, dann ist die Pause vorbei.«
Ich bestelle den Whiskey, dann erzähle ich ihm in Ultrakurzfassung, was mir widerfahren ist.
»Mmh«, sagt er, wieder nickend. »Es wäre möglich, diese Ehe aufheben zu lassen. Das ist kein einfaches Verfahren, aber die Umstände sprechen dafür, dass es angewandt werden könnte.« Er pausiert kurz und nimmt einen Schluck von seinem Drink. »Das Kind ist auf eine inzestuöse Beziehung zurückzuführen?«
Ich bejahe.
»Ich will ehrlich sein, zudem praktiziere ich nicht in Berlin. Sie wären also kein Mandant für mich. Aber ein Aufhebungsverfahren ist kein Pappenstiel. Außerdem dauert es mindestens ein Jahr. Mit einer normalen Scheidung sind Sie vermutlich besser dran.«
»Aber wenn ich das so will? Ich meine, diese Inzestsache …«
Das Wort Inzest klingt in meinen Ohren irgendwie unpassend, verniedlichend. Wie eine harmlose Krankheit. Irgendwas mit Warzen.
Jetzt nickt er wieder. »Ich verstehe Sie.«
Die Bar leert sich, ein anderer Anwalt winkt meinem Gesprächspartner auffordernd zu.
»Sie wohnen hier im Hotel?«, fragt er.
»Ja.«
»Geben Sie mir Ihre Zimmernummer. Ich kenne da einen Berliner Kollegen, dem würde diese
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