Geisterfahrer
Grenze überqueren, aber er weiß es nicht sicher. Er begleitet mich in den Bereich zwischen zwei Waggons, wo eine Deutschlandkarte hängt. »Hier sind wir«, sagt er und zeigt auf eine Stelle westlich von Wolfsburg. »Wir halten in Wolfsburg, die Grenze zwischen Niedersachsen und Sachsen-Anhalt liegt meiner Meinung nach etwa zwanzig Kilometer dahinter. Aber nageln Sie mich nicht darauf fest.«
»Sachsen-Anhalt«, sage ich staunend. Wie hieß das Anfang 1989?
»Ja«, sagt er und geht davon, ein Tablett mit leeren Gläsern balancierend.
Nach der Abfahrt aus Wolfsburg klebe ich mit der Nase an der Scheibe, fast eine Stunde lang, aber es ändert sich nichts. Ich habe eine dunkle Erinnerung an meine erste Fahrt durch die DDR, mit Jens und Mark, vor … sechsundzwanzig Jahren. Damals kam es mir vor, als wechsle sogar die Farbgebung der Landschaft. Jetzt ist alles gleich.
Wir haben den Mauerfall vor dem Fernseher erlebt. Gisela und ich lagen schon im Bett, da trommelte es an die Tür. Wolfgang stand davor, im Bademantel, und schrie: »Die Kommunisten kommen!« Er war knallrot im Gesicht, drückte sich an uns vorbei, schaltete den Fernseher an und rief wieder: »Die Kommunisten kommen! Seht doch!« Er ging zu unserem Wohnzimmerschrank, holte eine Flasche Schnaps hervor, die ich bis dahin noch nie gesehen hatte, und nahm einen mächtigen Schluck direkt aus der Pulle.
Meine hochschwangere Frau ließ sich auf das Sofa fallen. »Gott«, sagte sie, aber eher teilnahmslos. Ich starrte auf den Bildschirm und fühlte Ohnmacht aufsteigen. In Nieder-Sengricht fiel keine Mauer, aber in Berlin. Hunderte von Kilometern weit weg. Auf den Bildern, die sie vom Brandenburger Tor zeigten, meinte ich, einen großen, hageren Typen mit Ledermantel und Schlapphut zu erkennen. Aber vielleicht war das auch nur Einbildung. Wolfgangs Baustoffhandlung erlebte einen ungeahnten Boom während der folgenden Monate. In ganzen Horden fielen die DDRler bei ihm ein und kauften die Lager leer.
Die Fahrt dauert nur anderthalb Stunden, und dann erreicht der Hightechzug einen monströsen Glaspalast, irgendwo mitten in Berlin. Ich lege den Kopf in den Nacken, die gläserne Decke ist Dutzende Meter über mir.
Und plötzlich geht mir die Muffe.
6. Anwälte
Draußen steht die Luft, es stinkt nach Abgasen, ich habe den Kopf immer noch im Nacken, heilige Scheiße, was haben sie nur mit der Stadt gemacht? Es ist laut, Menschen schieben sich an mir vorbei. Ich winke nach dem Taxi, das zehn Meter von mir entfernt am Kopf der Schlange steht, aber der Fahrer reagiert nicht. Also schiebe ich die Kartons mit den Füßen vor mir her, schleife den Koffer nach und klopfe an die Scheibe. Eine Mittfünfzigerin steigt aus, sie trägt ein akkurates graues Kostüm, hat einen Schnurrbartflaum auf der Oberlippe, ihr Gesicht ist streng, ihre Haare sind zu einem engen Dutt geformt. Sie sieht aus, als wäre sie eigentlich Rektorin eines Gymnasiums. Der Kofferraumdeckel öffnet sich wie von Zauberhand, ich wuchte mein Gepäck hinein, die Frau beobachtet nur.
»Wohin?«, fragt sie, ihre Stimme ist dunkel.
Tja, wohin. Gute Frage.
»Gibt es ein brauchbares Hotel in Neukölln?«, frage ich. Da
habe ich zuletzt gewohnt, in Neukölln, aber ich kann mich nicht erinnern, dort je ein Hotel gesehen zu haben.
»Mercure?«, fragt sie zurück.
Ich nicke, keine Ahnung, was Mercure bedeutet, sie beobachtet mich im Rückspiegel.
»Autobahn?«
»Fahren Sie durch die Stadt. Sie können ruhig einen Schlenker machen. Ich war lange nicht mehr hier.«
Wir fahren durch einen brandneuen Tunnel, vor uns ist ein silberfarbener Kleinwagen, an dessen Heckscheibe ein Autoaufkleber – »Ich bremse auch für Leute« – angebracht ist, aber ansonsten findet sich derlei kaum noch an den Fahrzeugen. In den Achtzigern war das eine Manie; die Menschen haben die Hecks ihrer Autos mit Werbung und lustigen Sprüchen nachgerade zugepflastert. Mir fällt der Aufkleber ein, den die Grenzpolizisten damals aus Franks Handschuhfach geklaut haben. »Ich bin Energiesparer.« Das hatte damals jeder Zweite am Heck. Ich muss an Frank denken.
Dann sind wir am Potsdamer Platz, den ich nur aus dem Fernsehen kenne. Touristen drängen sich auf den Bürgersteigen, vor Kneipen, die sogar von außen steril aussehen, ich freue mich darüber, dass wenigstens mein Tourisensor noch funktioniert. Allerdings – wer sollte hier auch sonst herumlaufen?
Neben uns fährt ein Geländewagen, was mir nicht so richtig in den Kopf will, schließlich ist
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