Geisterfjord. Island-Thriller
vorspielen konnte. Eine Stimme, die Freyr aufgenommen hatte, obwohl es keine Stimmbänder und keine Zunge und kein zentrales Nervensystem gab, das die Worte bilden konnte. Aber am Himmel gab es auch nichts Sichtbares, das die Nordlichter einschaltete. Wie konnte er darüber urteilen, was möglich war und was nicht?
Um sicher zu sein, für den Rest des Abends seine Ruhe zu haben, schaltete Freyr das Handy auf stumm, bevor er es in die Jackentasche steckte. Trotz seiner melancholischen Stimmung musste er über diese unsinnige Maßnahme lächeln – nach der Arbeit rief ihn sowieso fast niemand außer Sara an. Aber er ging lieber auf Nummer sicher. Freyr stand auf und schaute ein letztes Mal zum Nordlicht, bevor er sich auf den Heimweg machte, immer noch davon überzeugt, dass das Grün irgendwie wichtig war. Sehr wichtig.
Die Gegend war völlig ausgestorben. Er war wegen der Ruhe hergekommen, aber auf einmal fand er es unheimlich, keine Menschen zu sehen. Bei jedem Atemzug stieß er weiße Wölkchen aus, die sich schnell wieder auflösten, doch in den wenigen Sekundenbruchteilen, die sie vor seinen Augen schwebten, meinte Freyr Bewegungen an Stellen zu sehen, an denen niemand war. Er beschleunigte seinen Schritt, ließ sich aber nicht dazu hinreißen zu laufen. Flucht war ein Zeichen dafür, dass er die Situation nicht mehr im Griff hatte. Was hatte er schon zu befürchten? Wenn sich das Unglaubliche als richtig herausstellte und Bennis Geist ihn heimsuchte, dann konnte das doch nur gut sein. Benni war sein Kind, ob lebendig oder tot. Freyr gab nicht viel auf das Gerede dieses Mediums, dass die Toten mit der Zeit böse würden. Und selbst wenn es so wäre, was könnte dann schlimmstenfalls passieren? Dass er sterben würde? Freyr sehnte sich nicht nach dem Tod, hatte aber auch keine richtige Angst davor, sein Leben war nichts Besonderes und seine Zukunft nicht sehr verlockend. Diese einfache Tatsache brachte ihn dazu stehen zu bleiben. Er schaute in die vor ihm liegende Gasse; die Straßenbeleuchtung und das mysteriöse Licht am Himmel schafften es nicht, sie zu erhellen, und die Laternen warfen lange Schatten auf den Asphalt, so als wiesen sie ihm den kürzesten und zugleich riskantesten Weg nach Hause.
Beim Lachen einer einsamen Mantelmöwe zuckte Freyr zusammen. Sein Herz klopfte dumpf in seiner Brust, und er atmete bewusst langsamer, um sich zu beruhigen. Dann hörte er aus der düsteren Gasse ein Kichern. Er stand wie angewurzelt da und hielt Ausschau nach einer Bewegung, sah aber nur die stummen Häuser, die einander mit schwarzen Augen anstarrten. Freyr verfluchte sich selbst, die Ruhe gesucht zu haben, und wünschte sich, er wäre durch die Innenstadt gegangen. Wieder ertönte ein unterdrücktes Kichern, diesmal deutlicher. Es klang freudlos, boshaft und schadenfroh. Obwohl Freyr überhaupt nicht in der Lage war, Bennis Lachen zu beschreiben, wusste er, dass das nicht sein Sohn sein konnte. Benni hatte in seinem kurzen Leben niemals so gelacht oder ein so gehässiges Geräusch von sich gegeben. Freyr schaute nach rechts und links und überlegte, ob er die dunkle Gasse meiden und am Meer entlanggehen oder die nächste Straße nehmen sollte, die wesentlich breiter und heller war. Er rechnete nicht damit, überfallen zu werden, wollte sich aber auch nicht dem Ursprung dieses Lachens nähern. Ohne weiter darüber nachzudenken, wählte er den Weg am Meer entlang, bog nach rechts und ging langsam los.
Das Plätschern der Wellen begrüßte ihn freundlich, als er sich dem Deich näherte, und er war über jeden Schritt froh, der ihn näher zu diesem angenehmen Geräusch brachte und von der Gasse entfernte. Er ging schneller und brachte sich auf andere Gedanken, indem er schätzte, wie viele Schritte er noch vom Deich entfernt war. Das Ergebnis schwankte – aber wenigstens dachte er unterdessen an etwas anderes. Dann hörte er das Kichern erneut. Diesmal schien es von einem kleinen Motorboot zu kommen, das in der Nähe zur Reparatur auf einem Gestell lag und auf den Frühling wartete. Das Geräusch war deutlicher als vorher, die Stimme hell und klar wie bei einem Kind. Aber gewiss kein normales Kind. Freyr vergaß die kalkulierte Anzahl von Schritten, blieb stehen und musterte die Gegend um das Motorboot. Keine Seele unterwegs. Er bückte sich und suchte unter dem Boot nach Füßen, sah aber keine. Wenn das Lachen von dort gekommen war, musste sich die Person im Boot verstecken. Freyr schoss der Gedanke durch den
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