Geisterfjord. Island-Thriller
eine Lieblingsfarbe hatte. Doch das grünliche Flackern am Himmel fesselte ihn, und zum wiederholten Mal an diesem Tag löste die Farbe eine altvertraute Trauer in ihm aus. Trauer über das, was vorbei war, und über das, was hätte sein können. Freyr verdrängte jegliches Wunschdenken, das nie zu einem Ergebnis führen würde, und fragte sich, warum es ihm plötzlich so schwerfiel, seinen eigenen Rat zu befolgen, den er Patienten gab, die in diesem Wunschdenken feststeckten.
Was wäre passiert, wenn ich dieses oder jenes gemacht hätte …?
Bisher hatte er solche Gedanken problemlos in Schach halten können. Er war realistisch genug, um zu wissen, dass es die Lage nicht verbessert hätte, wenn er damals Sara gegenüber ehrlich gewesen wäre. Zu ihrer Trauer wäre auch noch blanke Wut hinzugekommen, was alles nur noch schlimmer gemacht hätte. Die Wahrheit hätte nichts an Bennis Schicksal geändert. Es war für ihn nicht vertretbar gewesen, Sara noch mehr Schmerzen zuzufügen und Gefahr zu laufen, dass sie den Kontakt zu ihm abbrach. Das hätte sogar dazu führen können, dass er von seinem Arbeitgeber abgemahnt oder gekündigt worden wäre.
Mit dieser Argumentation hatte er seine Unehrlichkeit fast drei Jahre lang vor sich selbst gerechtfertigt. Doch nachdem er die Aufnahme gehört hatte, klangen diese schwachen Argumente nicht mehr so überzeugend, und er hatte Gewissensbisse bekommen. Wahrscheinlich interpretierte er viel zu viel in die leise Stimme aus dem schlechten Aufnahmegerät des Handys hinein, dennoch war er davon überzeugt, dass sein Sohn wollte, dass er reinen Tisch machte. Vielleicht hatte Bennis merkwürdige Botschaft den Zweck, Sara zu helfen und das Weiterleben für sie erträglich zu machen. Und dafür musste Freyr ihr die Wahrheit sagen.
In diesem Moment klingelte das Handy, und Freyr ging ran, ohne aufs Display zu schauen. Völlig fasziniert betrachtete er das Grün am Himmel, das sich weigerte, lange genug vor seinen Augen stillzustehen, damit er begriff, welche Bedeutung es hatte und welche Erinnerung es in ihm wachrief. »Hallo?«
Am anderen Ende der Leitung war Dagný. »Lárus ist tot.« Sie wartete darauf, dass Freyr etwas entgegnete, und sprach weiter, als er schwieg. »Man hat ihn in seiner Wohnung gefunden. Die Polizei in Reykjavík hat mich angerufen und mir Bescheid gegeben.«
»Was ist passiert?« Freyr schloss die Augen, um sich von dem Schauspiel am Himmel loszureißen und auf das Gespräch zu konzentrieren.
»Das wissen sie noch nicht, sieht so aus, als hätte er Gift getrunken. Vielleicht aus Versehen, vielleicht absichtlich, aber das ist unwahrscheinlich.«
»Weiß man, um welches Gift es sich handelt?« Die Frage war im Grunde nicht wichtig, aber Freyr brauchte Zeit, um die Neuigkeit zu verdauen und sich zu sammeln.
»Danach habe ich nicht gefragt. Morgen kriege ich bestimmt nähere Infos. Ich bin nicht ins Detail gegangen, als ich die Kollegen gebeten habe, Lárus aufzusuchen, ich habe nur gesagt, es ginge um einen alten Fall, zu dem er möglicherweise was sagen könnte, er hätte nicht auf unsere Anrufe reagiert. Ich musste das nicht näher erläutern.«
»Hatte er Narben auf dem Rücken?«
»Weiß ich nicht, das wird wohl noch ans Licht kommen.« Dagný seufzte leise. »Die werden mich ganz schön löchern.«
Freyr hatte dem nichts hinzuzufügen, er war nicht in der Lage zu besprechen, was das bedeutete, ob nun sämtliche Spekulationen über die Verbindungen zwischen dem todgeweihten Freundeskreis und dem Verschwinden seines Sohnes damit aus der Welt wären. Jetzt war niemand mehr da, der ihnen aus erster Hand etwas über früher erzählen konnte, und sie mussten der Sache nicht weiter nachgehen. Vielleicht war es ja besser so. Bevor Freyr in den Fall hineingezogen worden war, hatte er sich eigentlich ganz gut gefühlt und seinen Alltag ohne nennenswerte Schwierigkeiten bewältigt. Und jetzt befand er sich wieder fast in derselben emotionalen Achterbahn wie nach Bennis Verschwinden.
Er verabschiedete sich kurz angebunden und klang dabei so gedankenverloren, dass Dagný nachfragte, wie es ihm gehe, bevor sie auflegte. Doch anstatt sich zu öffnen und ihr von der Aufnahme zu erzählen, ging er nicht näher darauf ein und sagte nur, er sei müde. Er fühlte sich einfach nicht imstande, die jüngsten Ereignisse so wiederzugeben, dass sie ihn nicht für völlig verrückt hielt. Er musste damit warten, bis er ihr das Handy zeigen und ihr Bennis schwache Stimme
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