Geisterfjord. Island-Thriller
angebracht, nach Hesteyri zu fahren, um zu sehen, wie es ihm geht. Der Herbst war schon sehr kalt, und wir hatten allen Grund, uns Sorgen um ihn zu machen. Was sich als richtig herausstellte, er wurde nie gefunden.«
»Was kann mit ihm passiert sein? Das ist doch kein großer Ort, oder?« Freyr vermied es, die Frage zu stellen, die ihm am meisten auf der Zunge brannte. Erst musste er noch etwas trinken.
»Wir wissen es nicht. Hesteyri ist zwar ein kleines Dorf, aber es liegt mitten in endloser, unberührter Natur, wo er sich verlaufen haben könnte. Er muss eine Wanderung gemacht haben oder einfach losgelaufen sein, in dem Glauben, bewohnte Gegenden erreichen zu können. Wir haben sein leeres Handy gefunden. Man weiß natürlich nicht, ob sich die Batterie erst später geleert hat oder ob das Handy nicht funktioniert hat, als er den Skipper anrufen wollte und er keine andere Möglichkeit gesehen hat, als zu Fuß loszugehen.«
»Klingt wahrscheinlich.« Freyr nippte an seinem Whisky, gab sich einen Ruck und kippte den Rest in einem Zug hinunter.
»Na ja, es waren noch für mindestens zwei Tage Vorräte im Haus. Er hatte also eigentlich keinen Grund zur Panik.« Dagný rieb ihre Lippen aneinander, so als würde sie Lippenbalsam darauf verteilen. »Hast du jetzt genug Alkohol intus, um mir sagen zu können, woher du über das Schicksal deines Sohnes Bescheid weißt?«
Freyr wollte sie anlächeln, konnte es aber nicht. Seine Gesichtsmuskeln gehorchten ihm nicht mehr. »Nein, ich hab versprochen, es nicht weiterzuerzählen, ich kann mein Wort nicht brechen.« Er konnte von Dagný nicht verlangen, Informationen zurückzuhalten, wenn sie später einen Bericht über die Lösung des Falls schreiben musste. Er würde das Versprechen, das er dem Jungen gegeben hatte, halten. Er hatte nichts anderes verbrochen, als jung zu sein und die Umstände falsch zu interpretieren, und bestimmt schon genug gelitten, weil er geschwiegen hatte. Vielleicht würde er seinen Eltern alles erzählen, wenn in den Medien über den Fund von Bennis Leiche berichtet wurde, aber das musste er selbst entscheiden. Freyr war sich auch nicht sicher, ob er Sara die ganze Geschichte erzählen sollte, obwohl sie ein Recht darauf hatte. Vielleicht schätzte sie die Sache anders ein als er und machte den Jungen für Bennis Tod verantwortlich, was zwar verlockend, aber sehr ungerecht war. Freyr konnte einfach nicht wissen, wie sie auf den Schock reagieren würde.
Er stellte das Glas auf den Tisch und lehnte den Kopf zurück. Wie lange hatte es gedauert, bis Benni tot war? Eine Stunde? Zwei? Drei? Er wollte es nicht wissen, aber trotzdem brannte ihm die Frage auf den Lippen. Sie war völlig sinnlos, und es gab keine Antwort darauf. Genauso gut konnte er sich den Kopf darüber zerbrechen, was passiert wäre, wenn dieses oder jenes anders gelaufen wäre. Wenn dem Jungen, der mit Benni zur Tankstelle gegangen war, nicht plötzlich eingefallen wäre, dass er zu spät zum Geburtstag seines Cousins kommen würde und er deshalb nicht nach Hause gegangen wäre. Wenn der Junge einem anderen Kind Bescheid gesagt hätte, dass Benni sich in der grünen Tonne verstecken wollte, die aussah wie ein U-Boot und ganz hinten auf dem Tankstellenparkplatz auf einem Anhänger stand, anstatt direkt nach Hause zu laufen. Wenn er gewusst hätte, was eine Klärgrube ist und nicht das Wort U-Boot benutzt hätte. Hätte Benni sich ein anderes Versteck gesucht, wenn der Mann den Anhänger nicht abgehängt hätte, um mögliche Beschädigungen an der Anhängerkupplung zu überprüfen? Wäre ihm dann vielleicht klargeworden, dass der Anhänger früher oder später wegfahren würde? Doch nichts von alldem war passiert. Was, wenn die Kinder nicht die Lust verloren hätten, sich innerhalb der Grenzen ihres Viertels zu verstecken? Wenn sie nicht beschlossen hätten, das Gebiet, in dem man sich verstecken durfte auszuweiten, so dass es bis zur Tankstelle reichte? Und sich getraut hätten, der Polizei und ihren Eltern davon zu erzählen? Was dann? Hätte Benni dann auf andere Weise den Tod gefunden, und wenn ja, wie?
Freyr versuchte, an etwas anderes zu denken, es gab so unendlich viele Wenns. Es gelang ihm einfach nicht. Stattdessen brach eine Sturzwelle von Gedanken über die letzten Minuten in Bennis Leben über ihn herein. Es gab keinen Platz mehr für weitere Wenns – in dem Moment, als das Auto losgefahren war, hatte es kein Zurück mehr gegeben. Das Einzige, was anders hätte laufen
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