Geisterfjord. Island-Thriller
Draußen stand der Junge, aber es schien ein anderer zu sein als der, den sie bisher gesehen hatten. Er war etwas kleiner und starrte mit gebrochenen Augen durchs Fenster, sein gräuliches Gesicht war unendlich traurig. Draußen oder drinnen. Es spielte keine Rolle mehr. Sie konnten dem Tod nicht ausweichen.
Líf schrie, als sie sah, warum Katrín so blass geworden war, und ihr Schrei war so heftig, dass sie dabei die Kerze ausblies. Sie verstummte und begann zu schluchzen. In totaler Dunkelheit und völliger Hoffnungslosigkeit blieb ihnen nichts anderes übrig, als auf die kratzenden Geräusche in der Nähe des Lochs zu lauschen, in dem etwas hochzukriechen schien. Dann knarrte der Boden, als das Wesen auf sie zukam. Katrín saß näher an dem Loch, und die Schritte hielten hinter ihr an. Sie spürte einen kalten Atem an ihrem Hals, gefolgt von dem ekelhaften Geruch, den sie so abstoßend fand. Sie stöhnte unbeabsichtigt, obwohl sie eigentlich keinen Mucks von sich geben wollte, damit das Wesen verschwand oder rüber zu Líf ging. In ihrer Verzweiflung schoss ihr durch den Kopf, dass der Geist am Ende vielleicht doch gut wäre und ihr nichts tun würde.
Da legten sich zwei winzige, eiskalte Hände um ihren Hals.
32. Kapitel
Freyr schien endlich aus seinem Delirium zu erwachen. Er saß da und wunderte sich darüber, dass er das Haus, in dem er schon die ganze Zeit in Ísafjörður wohnte, nicht gemütlicher eingerichtet hatte. Zum ersten Mal gingen ihm die zusammengewürfelten Möbel auf die Nerven; sämtliche Konturen waren klarer geworden. Er presste ein Bild von seinem Sohn an seine Brust, so als wolle er nicht, dass Benni sähe, wie er jetzt wohnte. Es hatte etwas Tröstliches, das Kind so an sich zu drücken, auch wenn das gerahmte Foto nur aus Tinte und Papier bestand – eine zweidimensionale Momentaufnahme aus Bennis viel zu kurzem Leben. Freyr schloss wieder die Augen und wünschte sich, dass die kommenden Tage und Wochen Mitleid mit ihm haben und schnell vorübergehen würden. Jetzt, da sich sein größter Wunsch, Bennis sterbliche Überreste zu finden, zu erfüllen schien, wurde ihm klar, dass er, entgegen aller Logik, tief im Inneren stets gehofft hatte, dass Benni noch am Leben wäre. Diese Hoffnung war nun zunichte. Freyr hatte Angst davor, Sara die Neuigkeit zu überbringen, und hatte noch nicht mal versucht, sie anzurufen. Sie würde sowieso nicht rangehen, und er wollte ihr die Nachricht nicht um die Ohren schmettern, solange sie nicht offiziell bestätigt war. Aber das würde nicht mehr lange dauern.
»Trink das.« Dagný kam mit einem Glas mit einer goldenen Flüssigkeit ins Wohnzimmer. »Ich hab eine Flasche Whisky in der Küche gefunden. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, dass ich sie aufgemacht habe.«
Freyr löste seinen Griff um den Bilderrahmen und nahm das Glas entgegen. Er hatte die Flasche aus Reykjavík mitgebracht, ein Abschiedsgeschenk seiner Kollegen, die nicht wussten, dass er keinen Whisky mochte. Der starke Alkohol brannte in seiner Kehle. »Danke.« Er trank einen zweiten, größeren Schluck, der schon besser runterging. »Gibt’s was Neues?«
Dagný setzte sich vor ihm auf einen Stuhl, und sie schauten sich in die Augen. »Es ist der Wagen. Ich habe die alten Ermittlungsunterlagen überprüfen lassen. Der Mann hat an dieser Tankstelle etwas gegessen. Es war die letzte Zahlung mit seiner Kreditkarte, bevor er sie in Ísafjörður benutzt hat. Die Quittung lag im Handschuhfach, als wir seinen Wagen damals durchsucht haben. Die Zeit stimmt genau mit der Aufnahme der Sicherheitskamera überein.«
Freyr nickte dumpf. Er trank noch einen Schluck und hoffte, dass der Alkohol bald wirken würde. »Und man weiß nicht, was mit dem Mann passiert ist?«
»Nein, er ist ungefähr zur selben Zeit verschwunden wie dein Sohn. Vor drei Jahren.« Dagný lehnte sich zurück, wirkte aber immer noch angespannt. »Als wir die Info bekommen haben, dass seit zirka zwei Wochen am Kai in Ísafjörður ein Auto steht, haben wir den Eigentümer ermittelt und anschließend nach ihm gesucht. Ihm gehörte ein Haus in Hesteyri, und er hat sich und die Sachen aus dem Anhänger rüberbringen lassen, um es zu renovieren. Der Skipper, der ihn gefahren hat, meinte, er hätte anrufen sollen, wenn er abgeholt werden wollte, aber das hätte er noch nicht getan. Er hat sich keine großen Gedanken deswegen gemacht, aber angesichts seiner Beschreibung der Vorräte, die der Mann dabeihatte, hielten wir es für
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