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Geisterfjord. Island-Thriller

Geisterfjord. Island-Thriller

Titel: Geisterfjord. Island-Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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abzuhalten. Deshalb bin ich mitgekommen, um ihn abzuhalten.«
    »Ihn von was abzuhalten?« Katrín presste ihr Gesicht so fest gegen ihre Knie, dass ihre geschlossenen Augen weh taten.
    »Dich zu verletzten. Dich umzubringen. Er hat die Steine auf dich fallen lassen. Er hatte das vorbereitet, als wir zum ersten Mal hier waren. Er musste nur noch an dem Seil ziehen und … bumm!« Líf atmete heftig. »Ich hab versucht, es zu verhindern. Vielleicht ist es gut, dass er weg ist.«
    Katrín schwieg und spürte, wie die Tränen ihre Hosenbeine nässten. Sie wusste nicht, ob es Wut- oder Enttäuschungstränen waren. Sie räusperte sich, weil sie nicht wollte, dass Líf sie weinen hörte. »Bist du verrückt?«, zischte sie. Als ob Garðar nach ihrem Tod bessergestellt gewesen wäre! Nach einer Scheidung hätte er nur noch die Hälfte der Schulden gehabt. Und als Witwer alle. Plötzlich fiel ihr die Lebensversicherung ein. Das Geld, das sicherstellen sollte, dass der eine Ehepartner nicht in finanzielle Schwierigkeiten geriet, wenn der andere starb. »Du hast die Tür gegen mich geknallt, oder?« Líf musste gar nicht darauf antworten, ihr betretenes Gesicht sagte alles. Katrín vermutete, dass ihr krankes Hirn jetzt verzweifelt versuchte, Garðar die Schuld in die Schuhe zu schieben. Aber sie wollte es nicht hören. »Hast du Einar umgebracht, Líf? Und Garðar vielleicht auch?«, fragte sie.
    »Nein, wie kommst du darauf? Ich hab dir doch gesagt, dass ich versucht habe, Garðar zurückzuhalten. Ich habe versucht, dich zu retten. Wir sind Freundinnen!«
    Katrín wurde übel. Wie konnte Líf nur glauben, dass sie nicht mehr wüsste, wie es zu dem Einsturz gekommen war? Líf hatte sie aufgefordert, durch das Loch in die Halle zu schauen, und ihr keine Ruhe gelassen. Wenn Garðar die Steine runtergestoßen hatte, dann nur, weil Líf ihn dazu angestiftet hatte. Und als Katrín die Treppe hinuntergestürzt war, hatte Líf hinter der Tür gestanden. »Lügnerin!« Mehr traute sich Katrín nicht zu sagen. Die wunderbare Wut, an der sie sich festgeklammert hatte, verblasste langsam, und Verzweiflung über ihre Situation, den Betrug und die Falschheit stieg in ihr hoch. Zusammen mit den Schmerzen in ihrem Fuß und der beißenden Kälte ein perfekter Cocktail aus Unglück und Verzweiflung. Katrín hatte sich noch nie so ohnmächtig gefühlt.
    »Ich tue einfach so, als hättest du das nicht gesagt«, sagte Líf zähneklappernd. »Morgen früh, wenn wir ein bisschen geschlafen haben, sieht alles viel besser aus. Glaub mir, ich spüre es. Der Tiefpunkt ist erreicht, jetzt geht es wieder aufwärts. Morgen kommt das Boot, und alles wird wieder so wie vorher. Jedenfalls fast.« Sie musterte die zerknitterte Zigarettenpackung auf dem Tisch. »Ich glaube, ich rauche jetzt die letzte Zigarette. Ich weiß, dass du nicht mit mir zur Tür kommst, aber es droht bestimmt keine Gefahr mehr, seit sich das Wetter beruhigt hat. Dieser Albtraum ist vorbei.«
    Wie auf Bestellung quietschten die Türangeln im ersten Stock. Die Frauen zuckten zusammen und starrten mit aufgerissenen Augen an die Decke. Das Quietschen wiederholte sich, so als ginge ganz langsam eine Tür auf. Dann knallte es so laut, dass Katrín fast damit rechnete, dass die Tür auf den Boden krachte. Stattdessen ertönten ein abartiges Kichern und dann Schritte im Flur. Die Luft vibrierte, und ein loser Farbschnipsel fiel von der Decke auf den Küchentisch, genau in die Zigarettenpackung.
    Líf schlug sich die Hand aufs Herz. »Er ist oben.« In dem Moment drang ein lautes Klopfen aus dem Keller. Katrín erschrak so sehr, dass sie sich den Hals verrenkte, als sie den Kopf abrupt von den Knien hob. Adrenalin schoss durch ihre Adern, und der Schmerz in ihren tauben Fingern verschwand. Sogar ihrem Fuß schien der Schock gutzutun, denn das Pochen im Fußrücken wurde weniger, hörte aber nicht ganz auf. Líf starrte Katrín mit aufgerissenen Augen an. Es klopfte wieder, diesmal etwas leiser, und dann hörte es sich so an, als würde unter ihnen etwas über den Boden zu dem Loch geschleift. Katrín und Líf trauten sich nicht mehr zu atmen, und von Putti war kein Mucks zu hören. Das Geräusch wurde immer deutlicher, je näher es kam, und wurde von einem undeutlichen Murmeln begleitet, das man unmöglich verstehen konnte. Katrín holte tief Luft und schaute zum Fenster. Ihr einziger Gedanke war, hier rauszukommen, und das war der kürzeste Weg. Sie erschauerte. Ihre Hoffnung war dahin.

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