Geisterfjord. Island-Thriller
Täter dermaßen in Rage gebracht hatte. Freyr wusste, dass Kinder in diesem Alter Gleichaltrigen gegenüber sehr aggressiv sein konnten, aber die Opfer entwickeln nur selten eine derartige Zerstörungswut, wie sie in der Schule stattgefunden hatte.
Unten auf dem Klassenfoto standen die Namen der Kinder, aber Freyr konnte sie auf der unscharfen Kopie nicht lesen. Es gab allerdings auch eine Liste mit den Namen der sechs Kinder, deren Gesichter der Täter unkenntlich gemacht hatte, und Freyr nahm erstaunt zur Kenntnis, dass eines von ihnen Halla war. Neben den Namen standen die Sterbedaten der Betreffenden, an Hallas Namen unschwer erkennbar. Hinter einem Namen, Lárus Helgason, stand nichts. Er musste noch am Leben sein, während vier weitere, zwei Männer und zwei Frauen, alle in den letzten drei Jahren verstorben waren. Freyr kannte außer Halla keinen von ihnen und wusste nicht, was er davon halten sollte. Statistisch gesehen war es ziemlich auffällig, dass fünf von sechs ehemaligen Schülern in einer so kurzen Zeitspanne verstorben sind. Sie waren zwar zum Zeitpunkt ihres Todes zwischen siebenundsechzig und siebzig gewesen, aber trotzdem. Freyr hätte gerne gewusst, wie die Leute gestorben waren – falls es mehrere Selbstmorde gegeben hatte, war das auf jeden Fall eine Ermittlung wert. So etwas war, außer bei Jugendlichen, nahezu unbekannt.
Das Schockierendste war die Kopie eines Briefs, den Halla hinterlassen hatte. Die Polizei hatte ihn mit einem gelben Post-it-Zettel markiert, da man nicht unbedingt auf die Idee kommen würde, dass es sich um einen Abschiedsbrief handelte. Der Kopierer hatte ihn nicht vollständig abgelichtet, so dass die Wörter am Blattrand abgeschnitten waren. Halla schien das Blatt vollständig beschrieben und keine Ränder gelassen zu haben, was nicht so wichtig war, denn der Zusammenhang wurde auch so deutlich. Der Text ähnelte den Texten von Leuten, die an Realitätsverlust litten. Es gab keinen roten Faden, der die Gedanken und Empfindungen zusammenhielt. Hallas Botschaft war für andere Menschen völlig abstrus, und sie hatte mit ihrem Selbstmord verhindert, dass sie jemals verstanden würde. Sie musste am Tag ihres Todes einen schweren Schock erlitten haben, oder ihr Mann hatte Freyr nicht die Wahrheit über ihren psychischen Zustand gesagt. Bei einem solchen Text würde zumindest niemand daran zweifeln, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Etwas anderes war jedoch noch viel merkwürdiger: die wiederholten Hinweise auf Freyrs Sohn.
Muss Benni finden, muss Benni Freysson finden, muss Benni finden, muss Benedikt finden. Kann Benni nicht finden, finde Benni nicht, wo ist Benni? Verzeih mir, Bernódus, verzeih mir, verzeih mir, verzeih mir. Ich finde Benni nicht, finde ihn nicht, finde ihn nicht. Verzeih mir, Bernódus, verzeih mir, verzeih mir, verzeih mir. Verzeih mir, Bernódus.
Freyr legte das Blatt beiseite, stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Er stierte den Text an, bis seine Augen weh taten und er sie zumachen musste. Als er nur noch Dunkelheit sah, fühlte er sich endlich besser.
9. Kapitel
Das Mondlicht schien mild durch die Fenster. Die schneeweißen, frisch gestrichenen Wände erhellten den Raum, und Katrín war froh, dass sich Garðar durchgesetzt und die hellblaue Farbe, die sie vorgeschlagen hatte, nicht mitgenommen hatte. Alles, was den Einfluss der Dunkelheit minderte, war gut. Sie hatten beschlossen, den Abend in diesem Zimmer zu verbringen, dem einzigen Raum, der fertig gestrichen und somit viel heller war als die anderen. Sie kümmerten sich nicht um den Farbgeruch und die giftigen Dämpfe, obwohl sie alle davon Kopfschmerzen hatten. Das Licht war die Sache wert. Allerdings wurde es gerade etwas schwächer, da Líf am Fenster stand und hinausstarrte.
»Ich hätte jetzt nichts dagegen, nach Hause zu fahren«, sagte sie und drehte sich zu Katrín und Garðar, die versuchten, es sich auf den Isomatten bequem zu machen, die die Funktion eines Sofas übernommen hatten. Putti lag zusammengerollt an Katríns Füßen, und sie spürte die Wärme, die sein kleiner Körper ausstrahlte, durch ihre dicken Wollsocken. »Heute Abend noch.« Líf trug ihr blondes Haar offen, die Farbspritzer waren längst aus ihrem Gesicht verschwunden, und sie sah unglaublich gut aus – so, als hätte sie gerade eine Massage im Spa hinter sich und keine Hausrenovierung in der Wildnis. »Wenn dieser Typ, der hier rumläuft, normal wäre, würde
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