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Geisterfjord. Island-Thriller

Geisterfjord. Island-Thriller

Titel: Geisterfjord. Island-Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurdardóttir
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Arbeitstags müde sein musste. Wenn sie ihm diesen Gefallen nicht tun würde, wäre sie längst zu Hause.
    »Ich glaube, das ist alles, was wir über den Fall haben.« Dagný legte das letzte vergilbte Blatt auf den Stapel vor ihnen. Die altmodische, schwarze Schriftart des Berichts ließ Freyr an eine Schreibmaschine denken. »Der Junge könnte natürlich auch noch in Protokollen anderer Fälle erwähnt worden sein, aber es ist hoffnungslos, sämtliche Polizeiberichte aus Ísafjörður durchzusehen.« Sie lächelte Freyr dumpf an. »Ich habe einen Kollegen, der gerade pensioniert worden ist, gefragt. Er konnte sich an den Fall erinnern, zu der Zeit war er selbst noch ein Kind. Er hat mir versichert, dass der Junge nie gefunden wurde. Wir haben nichts übersehen.«
    »Nein.« Freyr las noch einmal den letzten Bericht über den Fall. Er war vom 23. Dezember 1953, gut zwei Monate nachdem der Junge verschwunden war. Ein Mann sagte aus, spät abends bei bitterer Kälte ein orientierungsloses, schlecht gekleidetes Kind am Strand in der Nähe des Hafens gesehen zu haben. Die Beschreibung traf auf den Jungen zu. Er hatte reglos dagestanden und auf seine Füße gestarrt, die von den kalten Wellen umspült worden waren. Als der Mann ihm etwas zurief und runter zum Strand gehen wollte, war das Kind aus seinem Blickfeld verschwunden. Der Mann hielt es für möglich, dass es ins Meer gefallen war. Seine Suche am Strand blieb ergebnislos, und er informierte die Polizei. Deren Nachforschungen waren schnell beendet, das Kind wurde nicht gefunden, und es gab keine Hinweise, dass es sich am Strand aufgehalten hatte. Auch am nächsten Tag fand man nichts. Der Mann musste den Jungen genau beschreiben, und einem aufmerksamen Polizisten fiel auf, dass seine Kleidung genau mit der des verschollenen Jungen übereinstimmte.
    »Die Fahndung wurde damals ziemlich abrupt beendet. Bei Benni war sie wesentlich umfangreicher und genauer. Ich hoffe, das hat mit den veränderten Zeiten und nicht mit dem gesellschaftlichen Status der Jungen zu tun«, sagte Freyr. Bernódus, der 1953 verschwunden war, hatte bei seinem alkoholabhängigen und psychisch instabilen Vater gelebt, während Benni in seinen Eltern zwei stabile Stützen gehabt hatte, die auf einer umfangreichen Ermittlung bestanden hatten.
    »Wahrscheinlich spielt beides eine Rolle. Die Arbeitsmethoden der Polizei haben sich natürlich auch geändert.« Dagný nahm die Papiere und stand auf, um sie zu kopieren. »Wenn deine Frau und du euch nicht so dahintergeklemmt hättet, wäre die Suche nach Benni vielleicht früher abgebrochen worden. Das Verhalten der Angehörigen hat immer einen gewissen Einfluss.« Sie schob die Blätter auf der Tischplatte zu einem ordentlichen Stapel zusammen. »Ich habe mir die Unterlagen über den Fall deines Sohnes noch mal angeschaut. Die Polizei fand dich ja eine Zeitlang ziemlich verdächtig.« Sie musterte ihn neugierig.
    Freyr sah keinen Grund, sich herauszureden. »Ich hab dir ja schon gesagt, dass es eine schreckliche Zeit war, die Sorgen um meinen Sohn haben mich total fertiggemacht, und dann kam auch noch dieser falsche Verdacht dazu. Das Merkwürdige war, dass mir das scheißegal war, meine Sorgen um Benni waren einfach viel stärker.«
    »Das kann ich gut verstehen.« Dagný stand immer noch da und schaute ihn an. »Hat man denn nie rausgefunden, was mit dem fehlenden Insulin passiert ist?«
    Freyr lockerte seinen Griff an der Tischkante und massierte seine Schläfe. »Nein, das ist nie rausgekommen. Ich hatte das Medikament die ganze Zeit im Blick und verstehe gut, dass die Polizei das damals verdächtig fand, aber alles, was ich gesagt habe, entsprach der Wahrheit und wurde bestätigt. Ich hoffe, das steht auch so in den Berichten, ich bin mir jedenfalls sicher, dass die Polizei mir geglaubt hat. Ich hab das Insulin nicht aus der Packung genommen.« Wenn er für jedes Mal, das er sich den Kopf über die Sache zerbrochen hatte, hundert Kronen bekommen hätte, wäre er jetzt ein reicher Mann. Er konnte sich am ehesten vorstellen, dass man ihm in der Krankenhausapotheke ein falsches Päckchen mit nur einem Insulin-Pen ausgehändigt hatte. Das war wesentlich wahrscheinlicher, als dass etwas aus dem Päckchen gefallen war, ohne dass er es bemerkt hätte. Er war ins Krankenhaus gefahren, um das Medikament zu holen, hatte das Päckchen in einer kleinen Tüte bekommen und nicht weiter darüber nachgedacht. Er hatte es eilig gehabt, ins Büro zu kommen, wo

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