Geisterfjord. Island-Thriller
er zwei Stunden verbracht hatte, ehe er nach Hause gefahren war.
Noch heute bekam er einen Stich im Herz, wenn er daran zurückdachte. Warum war er nicht direkt nach Hause gefahren? Natürlich hatten ihn die Umstände in seinem Büro mehr gereizt, als Sara und ihrer Schwester beim Backen und den Geburtstagsvorbereitungen zu helfen. Trotzdem hatte er nur selten etwas so bereut, aber daran ließ sich nun nichts mehr ändern, und es war am besten, diese unangenehme Erinnerung zu verdrängen.
»Das war in jeder Hinsicht ein schrecklicher Tag«, sagte er. Auf dem Heimweg hatte er sich noch mehr verspätet, hatte einen Autoanhänger gerammt und war beim Gedanken an Saras Reaktion noch nervöser geworden. Er wollte noch schnell hinter einem Auto vorbeihuschen, um die Ausfahrt von der Ártúnsbrekka zu erwischen, und hatte den Anhänger übersehen. Sein Wagen hatte keinen Kratzer abbekommen, aber der Anhänger war verbeult und die Hängerkupplung beschädigt. Der einzige Moment, an dem er die Papiertüte mit dem Medikament aus den Augen ließ, war, als er auf dem Parkplatz bei der Tankstelle ausstieg, mit dem wütenden Fahrer sprach und die Versicherungspapiere ausfüllte, während der Mann die Schäden an seinem Anhänger begutachtete. Währenddessen lag die Tüte auf dem Beifahrersitz. »Ich vermute, dass entweder von Anfang an nicht genug Insulin in dem Päckchen war oder dass jemand es an der Tankstelle geklaut hat. Wobei ich es bestimmt gemerkt hätte, wenn jemand zu meinem Wagen geschlichen wäre, ich stand ja direkt daneben. Alles andere ist einfach zu unrealistisch.«
»Und auf den Überwachungskameras der Tankstelle war nichts zu sehen?«
»Nein, leider nicht. Wir standen ganz am Ende des Parkplatzes, die Kamera hat nur das Auto vor dem Anhänger aufgezeichnet. Wie gesagt, es ist sehr unwahrscheinlich, dass jemand an meinem Wagen war, und selbst wenn, hätte er bestimmt die ganze Tüte mitgenommen.«
»Ja, das stimmt.« Dagnýs Gesichtsausdruck war unergründlich. »Aber das spielt ja jetzt keine Rolle mehr. Ich war nur neugierig, weil mir das beim Lesen aufgefallen ist.«
Während Freyr Dagný in den Flur gehen sah, versuchte er, sich vorzustellen, was für ein Mensch Bernódus’ Vater gewesen war und wie man sich so wenig für das Verschwinden seines Sohnes interessieren konnte. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrung konnte Freyr das wirklich nicht verstehen. Der Vater hatte den Jungen noch nicht mal vermisst gemeldet, sondern die Schulkrankenschwester. Sie hatte den Lehrer des Jungen aufgesucht, da dieser nicht zu einer Untersuchung erschienen war, und erfahren, dass er am Morgen nicht in die Schule gekommen war. Daraufhin rief die Krankenschwester bei dem Jungen an und erfuhr von seinem Vater, dass er nicht in seinem Bett lag. Sie informierte sofort die Polizei. Bei der ersten Vernehmung sagte der Vater aus, er hätte nicht gemerkt, dass sein Sohn am Tag zuvor nach der Schule nicht nach Hause gekommen sei. Er sei besoffen eingeschlafen und hätte am nächsten Morgen gedacht, der Junge sei in der Schule. Erst als der Anruf von der Schule gekommen sei, hätte er bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Da hätte er in das Zimmer seines Sohnes geschaut und gesehen, dass das Bett unbenutzt war.
Auch wenn sich der Protokollant offensichtlich bemüht hatte, sich neutral auszudrücken, merkte man, wie unsympathisch ihm der gleichgültige Vater gewesen war. Der Mann hatte keine Ahnung gehabt, wo sich sein Sohn aufhalten könnte, und schien auch nicht besonders erpicht darauf gewesen zu sein, es zu erfahren. Bei der letzten Vernehmung zwei Wochen später fiel es sogar dem Polizisten schwer, höflich zu bleiben. Der Vater sagte, es sei gar nicht so schlimm, wenn sein Sohn nicht gefunden würde, dann spare er sich wenigstens die Kosten für die Beerdigung. Freyr war so schockiert, dass er den Absatz mehrmals lesen musste. Er würde alles dafür geben, die sterblichen Überreste seines Sohnes beerdigen zu können.
Natürlich war der Mann krank gewesen. Als Psychiater interessierte sich Freyr für seine Geschichte, aber es gab kaum Informationen darüber. In den Unterlagen stand nicht, was mit der Mutter des Jungen passiert war und ob sie ihn auch vernachlässigt hatte. Vielleicht konnten ältere Einwohner von Ísafjörður etwas darüber erzählen, wobei Freyr sofort an seinen Patienten, den alten Lehrer, dachte. Vater und Sohn hatten allerdings erst kurz in der Stadt gewohnt, und nirgends stand, wo sie vorher
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