Geisterfjord. Island-Thriller
wie ein Gast, der nicht alle Türen und Schränke aufmachen wollte. Er belegte sogar nur ein Fach im Kühlschrank. Die einzigen privaten Gegenstände waren die Fotos von seinem Sohn, und die konnte er in fünf Minuten in eine Kiste packen. Freyr durfte das Haus natürlich uneingeschränkt benutzen – als der Personalleiter des Krankenhauses ihm die Schlüssel übergeben hatte, hatte er gesagt, er solle sich wie zu Hause fühlen. Freyr hatte sich bedankt und keine weiteren Fragen gestellt, hatte gar nicht wissen wollen, wie das Krankenhaus in den Besitz der Immobilie gekommen war.
Jetzt, da er ein paar vage Informationen über die ehemalige Bewohnerin hatte, wirkte das Haus ganz anders auf ihn. Er war durch die Zimmer gegangen und hatte sich die Bücher und Gegenstände in den Regalen, die Möbel und anderen Dinge angeschaut, die schon dort gewesen waren, als er das Haus zum ersten Mal betreten hatte. Bisher hatte er sie überhaupt nicht beachtet, geschweige denn sich Gedanken über ihre Herkunft gemacht. Am Ende seiner Besichtigungstour hatte er die Vermutung, dass die meisten Dinge nicht der ehemaligen Besitzerin des Hauses gehört hatten, die in ihrem eigenen Garten gestorben war. Die Sachen passten vom Alter und vom Stil einfach nicht zusammen. Die Bilder waren verblasste Nachdrucke, die Möbel billig und abgenutzt. Die bauschigen, hübschen Gardinen waren im Grunde das Einzige, was Freyrs Meinung nach zum Haus gehörte. Sie waren mit Sorgfalt und Liebe ausgewählt, auch wenn sie nicht seinem Geschmack entsprachen.
Wenn man davon ausging, dass Védís so wie Halla und die anderen aus der Klasse um 1940 geboren war, hätte die Einrichtung aus den siebziger Jahren stammen müssen und kein Sammelsurium aus verschiedenen Epochen sein dürfen. Geschirr, Gläser, Tischdecken, Töpfe und Pfannen sahen aus wie in einer Schaufenstereinrichtung von IKEA . Ausgeschlossen, dass nach all den Jahren kein einziger Löffel aus dem Haushalt einer älteren Dame übrig war. Das Krankenhaus musste das Haus leer übernommen und neu möbliert haben, die meisten Sachen im Secondhandladen, auf dem Flohmarkt oder im Restelager von IKEA gekauft haben. Die Möbel sagten daher wenig über Védís aus. Dagný hatte bei der Krankenhausverwaltung angerufen und sich ausführlich über die Vorgeschichte des Hauses erkundigt. Freyr wollte das nicht selbst tun, er hatte sich in den letzten Tagen schon merkwürdig genug verhalten. Demnach hatte die frühere Eigentümerin dem Krankenhaus das Haus vererbt. In der Verwaltung war man sehr überrascht gewesen, da Védís nichts mit dem Krankenhaus zu tun gehabt hatte, sie hatte nie lange dort gelegen oder die medizinischen Dienste mehr als üblich in Anspruch genommen. Trotzdem hatte etwas sie dazu bewegt, eine knappe Woche vor ihrem Tod ihr Testament zu machen und für ihren einzigen nennenswerten Besitz diese Vorkehrung zu treffen. Auch wenn die Gründe dafür unklar waren, freute sich das Krankenhaus über diese Großzügigkeit, denn es gab viele zugezogene Mitarbeiter, die irgendwo untergebracht werden mussten.
Und so war Freyr an das Haus gekommen. Eine alleinstehende ältere Dame hatte beschlossen, ihren einzigen Besitz seinem zukünftigen Arbeitgeber zu vermachen. Und kurz darauf war sie auf die scharfe Gartenschere gestürzt. Freyr kam das fast zu banal vor, als er an die Verschwörungstheorien dachte, die ihm durch den Kopf gegangen waren, als Dagný ihm zum ersten Mal von der Sache erzählt hatte. Er schämte sich, dass er sofort etwas in die Sache hineininterpretiert und sich dadurch genauso verhalten hatte wie seine Patienten – neuerdings offenbar nichts Ungewöhnliches. Freyr ließ die schwere Gardine fallen und betrachtete den hellroten Stoff, der sanft hin- und herschwang, bis er reglos herabhing. Es war sinnlos, den Fleck und die verwilderten Pflanzen anzustarren, die nicht mehr gehegt und gepflegt wurden. Freyr meinte zu wissen, wo der Unfall passiert war, auch wenn er sich dabei nur auf seine Intuition verließ.
Es war eine Stelle direkt gegenüber dem großen Wohnzimmerfenster am Rand des Gartens, wo eine Steinmauer das Grundstück vom Bürgersteig abgrenzte. Dort stand ein Strauch, der schon seit Freyrs Einzug keine Blätter mehr hatte. Freyr hatte keine Ahnung, welche Sorte es war. Wenn er raten müsste, würde er auf einen Rosenstrauch tippen, aber nur, weil sich in dem dunklen Gewirr von Zweigen Dornen verbargen. Man konnte sie von Freyrs Platz am Wohnzimmerfenster nicht
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