Geisterfjord. Island-Thriller
erkennen, aber er hatte sie gesehen, als er für die Jungen aus dem Viertel dort einen Ball geholt hatte. Sie hatten aus irgendeinem Grund nicht in den Garten gehen wollen, sondern an die Haustür geklopft und Freyr gebeten, ihnen den Ball zu bringen. Während er darüber nachdachte, fiel ihm ein, dass nur einer der Jungen auf dem Treppenabsatz vor der Tür gestanden hatte. Die anderen waren auf dem Bürgersteig geblieben und hatten sie aus sicherer Entfernung beobachtet. Damals hatte Freyr geglaubt, sie wollten nicht ohne Erlaubnis den vertrockneten Rasen betreten oder meinten, der Hausherr würde sie ausschimpfen, aber jetzt beschlich ihn der Verdacht, dass die unheimliche Geschichte des Gartens daran schuld war. Die Jungen waren alt genug, um sich an den Unfall zu erinnern, und damals hatte es im Viertel bestimmt kein anderes Thema gegeben als Védís plötzlichen Tod. Freyr war sich nicht ganz sicher, ob es Einbildung gewesen war, aber als er sich bei dem Strauch nach dem bunten Plastikball gebückt hatte, hatte er sich unwohl gefühlt. Er hatte das Gefühl gehabt, als hätten bunte Plastikbälle in der Stille und Dunkelheit an den Wurzeln des Strauchs nichts zu suchen.
Wahrscheinlich war diese Erinnerung in seinem Kopf etwas durcheinandergeraten, aber das war nebensächlich. Vor dem Strauch befand sich nämlich ein dunkler Fleck, dunkelbraune Erde in der ansonsten gepflegten Rasenfläche, die der Winter milde behandelt hatte. An der Stelle war nichts, das den kahlen Fleck erklären konnte, und obwohl Freyr sich nicht besonders für den Garten interessierte, hätte er bestimmt gemerkt, wenn ein Stein oder ein großer Gegenstand dort gestanden hätten, zumal die Stelle vom Wohnzimmerfenster aus gut einsehbar war. Nein, er war davon überzeugt, dass die Frau dort verblutet war und dass man vernünftige Gründe für die kahle Stelle finden würde, wenn man genauer nachforschte. Vielleicht hatte der Salzgehalt in Védís’ Blut das Gras kaputtgemacht, oder die Nachbarn oder ein Reinigungstrupp hatten aus Versehen giftiges Putzmittel auf die Stelle gesprüht. Die Frau musste stark geblutet haben.
Freyr trat von einem Bein aufs andere. Er hatte gegessen, ein paar Sachen gepackt, die er morgen früh mit nach Reykjavík nehmen wollte, und obwohl gleich die Spätnachrichten anfingen, konnte er sich nicht überwinden, den Fernseher einzuschalten. Er war zu aufgewühlt, um auch noch die Ärgernisse der Innenpolitik zu verkraften. Instinktiv zog er seinen Jogginganzug an. An der Haustür blieb er kurz stehen und starrte auf den Schlüsselbund mit dem Wahrzeichen der Stadt Ísafjörður. Daran hingen vier Schlüssel, zwei für die Haustür, einer für die Garage und einer für den Keller, den er nicht benutzte. Freyr hatte bei der Hausübergabe nur kurz hineingeschaut. Nachdenklich knabberte er an der Innenseite seiner Wange, steckte die Schlüssel dann in die Tasche und ging in den kühlen Winterabend hinaus. Er würde seine übliche Runde laufen und sich anschließend besser fühlen, zumindest wäre er dann körperlich erschöpft und könnte besser einschlafen. Freyr versuchte, sich nur noch auf den Weg zu konzentrieren.
Doch als er vor dem Haus stand, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, einen Blick auf die Stelle zu werfen, die er für Védís’ Todesort hielt. An diesem milden Winterabend roch die schlafende Natur nicht sehr intensiv, aber Freyr konnte ihren vagen Duft dennoch wahrnehmen, wenn er tief einatmete. Als er vor dem dunklen Fleck stand, stieg ihm ein schwererer, schärferer Geruch in die Nase. Seine Nasenflügel brannten, als er die stinkende Luft einatmete, und er hielt sich automatisch die Nase zu. Dann bückte er sich, zog einen dünnen Zweig unter dem Strauch hervor und stocherte damit in der dunkelbraunen Erde herum. Sie war feucht und schien wärmer zu sein als normal, aber Freyr brachte es nicht über sich, die Hand darauf zu legen. Falls hier nichts mehr wuchs, weil jemand Gift versprüht hatte, wollte er die Erde lieber nicht anfassen. Er richtete sich wieder auf, stockte jedoch mitten in der Bewegung, als ein klapperndes, metallenes Geräusch aus dem Strauch drang. In seinem Kopf entstand sofort das Bild von einer Gartenschere.
Freyr atmete tief ein und roch wieder den scharfen Geruch, der stärker geworden war, als er in der Erde herumgestochert hatte. Ihm wurde schwindelig, aber er bückte sich trotzdem noch einmal und spähte unter den wuchernden, unansehnlichen Strauch. Natürlich
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