Geisterfjord. Island-Thriller
anfasst.«
Schweigend joggten sie noch ein Stück, bis Freyr vorschlug umzukehren, da Dagný langsam müde wurde. Er hätte noch ein gutes Stück weiterjoggen können, wollte aber lieber mit ihr zurücklaufen. Als sie vor seinem Haus standen, beschloss er, sie einzuladen zu einem Glas Rotwein, Cola, Tee, Bier, Kaffee, Wasser oder was auch immer sie wollte. Sie wich seinem Blick aus, atmete tief durch und erklärte sich einverstanden, wollte aber erst duschen und dann in einer halben Stunde vorbeikommen. Vier Minuten später war Freyr bereits geduscht – er hatte sich während der Studienzeit, als er immer in Eile und jede Minute kostbar war, eine Schnellwaschtechnik angeeignet. Er trocknete sich ab, zog sich ebenso schnell an und wollte, um das Warten zu verkürzen, einen Blick in den Keller werfen. Der Abend war friedlich und die Umgebung ganz ruhig, so dass er bestimmt hören würde, wenn Dagný das alte Eisentor aufmachte.
Im Garten war es noch dunkler als vor dem Haus, und Freyr stützte sich sicherheitshalber an der Wand ab, als er die Kellertreppe hinunterging. Er wollte nicht hinfallen oder sich vertreten, wenn Dagný endlich zu Besuch kam. Als er die Kellertür öffnete, knarrte sie laut in den Angeln. Freyr reckte sich nach dem Lichtschalter und sah sich in dem fast leeren Keller um.
Es gab genauso wenig zu sehen wie beim letzten Mal. Im Lichtstrahl tanzte Staub. Freyr schaute hinter eine halbhohe Wand weiter hinten im Keller, die er beim letzten Mal nicht beachtet hatte. Dort war ein Pappkarton, auf dem mit schwarzem Filzstift »Védís Arngrímsdóttir« stand. Ohne lange nachzudenken, hob er den Karton hoch, ein bisschen nervös, weil er Angst hatte, Dagný zu überhören.
Eigentlich wollte er ihn erst öffnen, wenn sie wieder weg war, aber er konnte sich nicht beherrschen und warf einen Blick hinein. In dem Karton lagen überwiegend Bücher und obenauf ein abgegriffenes Schreibheft mit dem handgeschriebenen Titel:
Traumtagebuch 2001
17. Kapitel
Die Wolken schienen alle im selben Moment zu bersten, weil sie ihr Gewicht nicht mehr tragen konnten – eben war draußen noch alles ruhig gewesen, und jetzt tobte ein Schneesturm. Der Schnee schluckte sämtliche Geräusche, so dass der Fluss und das Rauschen der Wellen nicht mehr zu hören waren. Im ersten Moment waren sie erleichtert, dass sie die Umgebungsgeräusche nicht mehr hörten und nicht bei jedem Knacken des undichten Hauses zusammenzuckten, aber dann beschlich sie ein ungutes Gefühl. Die zugenagelten Fenster machten es noch schlimmer, denn dadurch hatten sie nur noch zwei von fünf Sinnesorganen und bekamen nicht mehr mit, ob sich draußen jemand herumtrieb.
»Ich würde gerne noch eine rauchen.« Líf schwenkte ihren Zeigefinger immer wieder durch die Flamme der Kerze, die auf dem alten Esstisch stand. Sie hatte eine angebrochene Packung Winston in der Küche gefunden und trotz Katríns lautstarker Proteste eine Zigarette herausgenommen. Katrín fand es schon schlimm genug, dass sie eine der Kerzen abbrannten, die in flachen, kupfernen Kerzenständern überall im Haus verteilt standen, und höchstwahrscheinlich so weitermachen würden, bis nur noch Kerzenstümpfe übrig waren. Aber das ließ sich immerhin durch die dringende Notwendigkeit rechtfertigen, im Gegensatz zu Lífs Raucherei, die sie eigentlich längst drangegeben hatte. »Kommt ihr noch mal mit zur Tür?«
»Nein.« Katrín würde Líf bestimmt keinen Gefallen tun, nachdem sie einfach abgehauen war und sie mit der unheimlichen Stimme hinter der Hausecke alleine gelassen hatte. Aber es war nichts passiert, der Besitzer der Stimme war nach seinen vagen Drohungen einfach verschwunden, und Katrín hatte mit zitternden Gliedern und Putti neben sich in der geräuschlosen Nacht gehockt, bis Garðar und Líf angelaufen kamen. Líf war Garðar bei ihrer Flucht in die Arme gerannt und hatte ihm keuchend von ihrem Erlebnis erzählt. Er war sofort losgestürmt, ohne zu wissen, was ihn beim Arzthaus erwarten würde. Als er sah, dass Katrín unverletzt war, marschierte er wütend und mit energischen Schritten um die Ecke, um dem verrückten Rotzbengel ein für alle Mal tüchtig den Kopf zu waschen. Aber es war niemand da, was Katrín nicht überraschte – der Junge war vor ein paar Minuten gegangen, und da er die Gegend tausendmal besser kannte als sie, war es zwecklos, ihn zu suchen. Außerdem lud die Dunkelheit nicht gerade zu Heldentaten ein.
»Ich verstehe nicht, wie wir vergessen
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