Geisterfjord. Island-Thriller
noch sein Bruder verstanden Freyrs Entscheidung und betrachteten sie als Zeichen, dass er krank war. Was er letztendlich wohl auch war. Freyr saß gähnend hinten im Taxi und fuhr zu Sara, anstatt bei seinen Verwandten eine Tasse Kaffee zu trinken. Er wollte auf keinen Fall, dass sich der Zwischenfall im Flugzeug noch mal wiederholte, und kämpfte mit seiner Müdigkeit. Er hätte natürlich das kurze Stück in die Weststadt laufen können, aber dann würde er noch erschöpfter bei Sara ankommen. Der Besuch war schon heikel genug. Allerdings hatte Sara am Telefon gefasster geklungen als sonst und war ausnahmsweise mal nicht den Tränen nah gewesen. Freyr wünschte sich, dass sie sich endlich mit der Vergangenheit abfände, wollte aber an ein kurzes Telefonat nicht zu große Hoffnungen knüpfen. Natürlich hätte er sie gestern Abend anrufen sollen, aber die Dinge hatten sich nun mal anders entwickelt. Es war einfach nicht gegangen, solange Dagný bei ihm gewesen war, und nach Mitternacht war es zu spät. Freyr wusste noch nicht, ob und wann er Lárus treffen würde, denn der hatte seine Anrufe bisher nicht beantwortet. Deshalb hatte er Sara angerufen – weil alle anderen Pläne geplatzt waren. Das war nicht gerade höflich und bestimmt der Grund dafür, dass sie so abweisend reagiert hatte.
Freyrs Gedanken drehten sich immer noch um das Treffen mit dem Rechtsmediziner. Freyr hatte ihn gebeten herauszufinden, ob die beiden anderen Verstorbenen aus der Gruppe, Védís und Jón, dieselben Narben hatten. Der Arzt konnte das leicht herausfinden, hatte Freyr aber nach der Verbindung zwischen diesen Personen ausgefragt. Freyr hatte seine Fragen gewissenhaft beantwortet, denn es gab keinen Grund, ihm etwas zu verschweigen. Vielleicht hatte der Glaube an Vorzeichen oder Geister Einfluss auf Leben und Tod der Klassenkameraden gehabt. Der Arzt hatte aufmerksam zugehört und am Ende gesagt, Freyrs Fachbereich sei einer der wenigen, bei denen es nicht leichter sei, einen toten Menschen zu diagnostizieren als einen lebendigen. Er selbst habe nicht viel Erfahrung mit psychischen Krankheiten, er sehe nur ihre Symptome, aber nicht die Ursachen, obwohl er in der Lage sei, die Regionen und Organe des Körpers zu durchforsten, die beim lebenden Menschen nicht untersucht werden könnten. Er könne Freyrs Aussage nicht bewerten, sondern ihm nur glauben. Als sie sich voneinander verabschiedeten, fragte der Arzt, ob er die Entwicklung des Falls mitverfolgen dürfe, und ließ durchblicken, dass er eventuell einen Fachartikel über das Zustandekommen der Narben schreiben würde. Freyr bezweifelte, dass ein Artikel über ein so ungewöhnliches Thema in einer seriösen Ärztezeitschrift veröffentlicht würde, versprach aber, ihn auf dem Laufenden zu halten.
Das Taxi hielt vor dem hübschen Holzhaus, in dem Sara wohnte. Ihre Wohnung lag im ersten Stock, und Freyr konnte durchs Wohnzimmerfenster sehen, dass sie ihn beobachtete. Als er das Taxi bezahlt hatte und ausstieg, war sie verschwunden. Auf dem Weg zum Haus holte Freyr ein paarmal tief Luft. Ihm graute davor, seine Exfrau zu treffen, und er fragte sich, warum er das eigentlich machte; eigentlich wäre es für sie beide am besten, die Dinge auf sich beruhen zu lassen und jeglichen Kontakt abzubrechen. Aber das war leichter gesagt als getan, denn Freyr hatte immer noch schreckliche Gewissensbisse, weil er sie ausgerechnet in der Zeit, als sie ihn am meisten gebraucht hätte, verlassen hatte. Bevor er auf die Klingel drückte, besann er sich darauf, dass er diese Entscheidung aus reinem Selbsterhaltungstrieb gefällt hatte – einem der stärksten Triebe im Leben.
Die Tür ging auf, bevor er klingeln konnte, und Sara stand in der Türöffnung. Sie war noch schmaler als beim letzten Mal. Ihr Kopf wirkte im Verhältnis zu ihrem Körper unnatürlich groß, und sie sah aus wie eine PEZ -Figur. Obwohl ihr Körper zerbrechlich war, wirkte ihr Gesicht viel gesünder als sonst, ihre Augen leuchteten, allerdings aus anderen Gründen, als er erwartet hatte. Sara war total sauer.
»Hallo.«
Freyr wollte ihr wie üblich einen Kuss auf die Wange geben, aber sie wich ihm aus und bat ihn einzutreten. Er ließ sich nichts anmerken, obwohl ihm die Sache unheimlich war, zog seine Schuhe aus und folgte ihr in die Wohnung. Überall standen vertraute Möbel aus der Zeit ihrer Ehe. In Freyrs Augen wirkten sie deplatziert, so als warteten sie darauf, zurück an ihren ursprünglichen Ort gebracht zu werden,
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