Geisterfjord. Island-Thriller
längerer Zeit aufgetreten sein. Das Kreuz ist zwar vollständig, besteht aber aus vielen kleinen Wunden, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten verheilt sind, die letzte ist noch ziemlich frisch.«
Freyr starrte Hallas bläulich-weißen Rücken an. Er hatte dieselbe Schutzkleidung angezogen wie der Rechtsmediziner und hätte am liebsten die Brille abgesetzt, um besser sehen zu können. »Glauben Sie, dass sie sich das selbst zugefügt hat? Aus den Wunden ein Kreuz gebildet hat?« Über die gesamte Wirbelsäule zog sich eine Reihe von weißen und hellroten Narben. Sie waren alle länglich, aber unterschiedlich groß. An einigen Stellen gingen sie ineinander über, und die Reihe war keineswegs gerade, auch wenn es aus einiger Entfernung so aussah. Unter den Schulterblättern verlief eine ebensolche Reihe von Narben quer über den Rücken und bildete ein Kreuz. Es war gut zu sehen, welche Narben am frischesten waren: Die am linken Ende der Querreihe waren röter als die anderen.
»Es ist schwer vorstellbar, wie sie sich diese Verletzungen zugefügt haben soll.« Der Arzt zeigte mit seiner behandschuhten Hand auf die Rückenmitte, wo die beiden Linien des Kreuzes aufeinandertrafen. »Sie könnte natürlich ein Werkzeug benutzt haben, aber da sich keine Narbe außerhalb des Kreuzes befindet, hätte sie auch noch zwei Spiegel gebraucht. Ich würde sagen, es ist sehr schwierig, das hinzukriegen.« Er nahm seine Hand von Hallas Rücken und steckte sie in die Tasche seines Kittels. »Ich vermute, dass ihr jemand dabei geholfen hat. Falls man das helfen nennen kann. Vielleicht ist es auch gegen ihren Willen passiert, und sie hat sich aus unerfindlichen Gründen nicht gewehrt.«
»Wie sah es denn bei den anderen Fällen aus, die Sie erwähnt haben? Haben sich die Betreffenden die Verletzungen selbst zugefügt?«
»Das ist nie ans Licht gekommen.« Der Arzt bedeckte Halla mit einem weißen Laken. »Es waren zwei Personen, ein Mann und eine Frau. Ich habe sie beide nicht obduziert und weiß nicht viel über sie.«
»Was waren das für Leute?« Freyr betrachtete den weißen Hügel, den Hallas sterbliche Überreste bildeten. Ihre Leiche sollte mit der Nachmittagsmaschine in die Westfjorde gebracht und in zwei Tagen beerdigt werden. Freyr fand es immer wieder erstaunlich, was von einem Menschen übrig blieb; wo zuvor ein Herz geschlagen und unablässig Gedanken abgelaufen waren, gab es jetzt nur noch totes Fleisch an weißen Knochen. Und mit der Zeit blieben nur noch Knochen übrig.
»Der Mann wurde bei uns eingeliefert, weil er bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, und bei der Frau hat man es im Beerdigungsinstitut entdeckt. Ich war zu der Zeit in Urlaub und habe erst jetzt davon gehört. Es gibt Fotos und Berichte darüber.« Der Arzt zog die Gummihandschuhe aus und ließ sie in einen Mülleimer aus glänzendem Chrom fallen. »Zusammen mit diesem hier sind das drei ähnliche Fälle im Abstand von ungefähr zwei Jahren. Da denkt man schon darüber nach, ob es sich um ein Ritual in einer Glaubensgemeinschaft handelt, von der man noch nie was gehört hat.«
Freyr streifte ungeschickt seine Handschuhe ab und sagte: »Halla war gläubig, aber ihr Mann hat keine Religionsgemeinschaft erwähnt. Sie war in der Kirche ihres Heimatorts aktiv. Die beiden anderen haben aber nicht in Flateyri gewohnt, oder?«
Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nein, die Frau hat, wenn ich mich recht erinnere, in Südisland am Meer gewohnt, und der Mann war aus Ísafjörður.« Er schwieg einen Moment, während er etwas in ein Protokoll eintrug, das auf einer Ablage neben dem Obduktionstisch lag. »Es gibt allerdings noch eine Gemeinsamkeit, auch wenn die drei nicht im selben Ort gewohnt haben. Sie sind alle 1940 geboren. Ich weiß nicht, ob das was zu sagen hat, aber es ist mir aufgefallen.«
Freyr befeuchtete unter der Maske seine Lippen. »Wie heißen die beiden, wenn ich fragen darf? Der Mann, der unters Auto gekommen ist, heißt der vielleicht Steinn?«
Die Schutzbrille des Arztes rutschte nach oben, als er verwundert die Augenbrauen hob. »Woher wissen Sie das?«
Es war ein komisches Gefühl, ohne Auto zu Besuch in der Stadt zu sein, in der er geboren war und die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte, und keine Anlaufstelle zu haben, wo er sich ein Stündchen ausruhen konnte. Freyr hatte keine Lust, seine Familie zu besuchen – die machte sich schon genug Sorgen um ihn, seit er in die Westfjorde gezogen war. Weder seine Eltern
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